Powerschoolexplosion
Die konnte sich nicht daran erinnern, gestorben zu sein. Mit einem
unbestimmten Gefühl der Besorgnis fragte sie sich, ob die aufgebrachten
Stimmen, die aus der Ferne an ihr Ohr drangen, bedeuteten, dass ihr
die Erfahrung dieses die Grenzen des Bewusstseins überschreitenden
Endes ein weiteres Mal bevorstand: ihres eigenen Todes.
Sollte dem in der Tat so sein, dann konnte sie nicht das Geringste
dagegen tun.
Zwar erinnerte sie sich nicht an ihren Tod, dafür aber umso besser
an ernste, tuschelnde Stimmen, die irgendwann - wohl zu einem späteren
Zeitpunkt - davon gesprochen hatten, sie sei gestorben, der Tod habe
sie ereilt, er aber habe seinen Mund auf ihren gepresst, ihre leblos
gewordenen Lungen mit seinem Atem gefüllt und so den ihren auf diese
Weise zu neuem Leben erweckt.
Sie hatte sich nicht vorstellen können, wer das gewesen sein mochte,
der von einem so unglaublichen Bravourstück sprach, oder wer dieser
er sein sollte.
In jener ersten Nacht, in der die fernen, körperlosen Stimmen für sie
kaum mehr gewesen waren als eine verschwommene Ahnung, hatte sie begriffen,
dass um sie herum Menschen standen, die - obwohl sie inzwischen wieder
lebte - nicht daran glaubten, dass sie diese Nacht überleben würde.
Mittlerweile aber wusste sie, sie hatte überlebt, sie war, vielleicht
als Antwort auf die verzweifelten Gebete und feierlichen Schwüre,
die man in jener ersten Nacht mit gedämpfter Stimme an ihrem Lager
gesprochen hatte, noch viele Nächte lang am Leben geblieben.
Doch auch wenn sie sich nicht an das Sterben selbst erinnerte, die
Schmerzen kurz vor dem Eintauchen in die große Vergessenheit waren
ihr noch in Erinnerung, diese Schmerzen würde sie niemals vergessen.
Sie entsann sich, wie sie ganz auf sich gestellt und voller Wut gegen
all diese Männer gekämpft hatte, Männer, die ihre Zähne bleckten wie
ein Rudel wilder Hunde bei einem Hasen. Sie erinnerte sich an den
Hagel brutaler Schläge, der sie zu Boden gezwungen, an die schweren
Stiefel, die auf sie eingetreten hatten, als sie dort lag, und an
das scharfe Knacken brechender Knochen. Sie erinnerte sich an das
Blut, an die Unmengen von Blut an ihren Fäusten und Stiefeln. Sie
erinnerte sich an das glühende Entsetzen, angesichts dieser Qualen
nicht mal mehr die Luft zum Keuchen zu haben, keine Luft, um gegen
die erdrückende Last der Schmerzen mit einem Schrei zu protestieren.
Als sie einige Zeit später - ob Stunden oder Tage, vermochte sie nicht
zu sagen - unter sauberen Laken in einem unbekannten Bett liegend
in seine grauen Augen hochgesehen hatte, war ihr bewusst geworden,
dass die Welt für manch einen noch schlimmere Schmerzen bereithielt,
als sie sie erlitten hatte.
Seinen Namen kannte sie nicht. Die tiefe Besorgnis, die ihm so deutlich
in den Augen abzulesen war, verriet ihr unmissverständlich, dass sie
ihn hätte kennen sollen. Sie wusste, sie hätte seinen Namen - mehr
als ihren eigenen, mehr noch als das Leben selbst - kennen müssen,
doch war dies nicht der Fall. Nichts hatte sie je mehr beschämt.
Wann immer sie in der Folgezeit die Augen geschlossen hatte, sah sie
seine, nicht nur das hilflose Leid darin, sondern auch das Leuchten
einer leidenschaftlichen Hoffnung, die nur wahre Liebe entflammt haben
konnte. Irgendwo, sogar noch in der tiefsten Finsternis, die ihren
Geist zu ersticken drohte, sperrte sie sich dagegen, das Leuchten
in seinen Augen durch ihre Unfähigkeit, sich kraft ihres Willens zum
Weiterleben zu zwingen, erlöschen zu lassen.
Irgendwann fiel ihr dann wieder sein Name ein. Meist wusste sie ihn,
mitunter aber auch nicht. Manchmal, wenn der Schmerz sie zu erdrücken
drohte, vergaß sie sogar ihren eigenen Namen.
Als Kahlan jetzt Männer mürrisch seinen Namen brummen hörte, wusste
sie ihn, und sie wusste auch, wem er gehörte. Mit hartnäckiger Entschlossenheit
klammerte sie sich an diesen Namen - Richard - und an ihre Erinnerung
an den dazugehörigen Menschen: wer er war und was er ihr bedeutete.
Selbst später, als die Leute befürchteten, sie könnte doch noch sterben,
wusste sie, sie würde überleben. Sie hatte gar keine andere Wahl -
Richard, ihrem Mann zuliebe. Und ihrem Kind zuliebe, das sie unter
dem Herzen trug. Seinem Kind. Ihrer beider Kind.
Das Geschrei der aufgebrachten Männer, die Richard beim Namen riefen,
ließ Kahlan schließlich mühsam die Augen öffnen. Sie blinzelte gegen
die heftigen Schmerzen an, die unter der schützenden Hülle des Schlafes
zwar nachgelassen hatten, aber noch nicht vertrieben worden waren.
Ein zartes, bernsteinfarbenes Licht schlug ihr entgegen, das den Raum
um sie herum füllte. Da das Licht hell war, folgerte sie, vor dem
Fenster müsse eine Abdeckung hängen, die das Sonnenlicht dämpfte,
vielleicht wurde es aber auch gerade dunkel. Wenn sie wie jetzt aufwachte,
fehlte ihr nicht nur jedes Gefühl für Zeit, sondern auch dafür, wie
lange sie geschlafen hatte.
Sie rieb ihre Zunge gegen den teigig trockenen Belag in ihrem Mund.
Ihr Körper war bleiern vom schwerfälligen Schlaf, der noch immer nicht
weichen wollte. Ihr war so übel wie damals, als sie noch klein gewesen
war und vor einer Bootsfahrt an einem heißen, windigen Tag drei Paradiesäpfel
verschlungen hatte. Genauso heiß war es auch jetzt: sommerlich heiß.
Sie mühte sich, vollends aufzuwachen, doch ihr erwachendes Bewusstsein,
hin und her geworfen auf einem unermesslich weiten Schattenmeer, schien
seinem Schicksal preisgegeben. Ihr Magen drehte sich, und plötzlich
musste sie alle ihre Gedanken darauf konzentrieren, sich nicht zu
übergeben. Sie wusste nur zu gut, dass in ihrem gegenwärtigen Zustand
nur wenige Dinge schmerzhafter wären als zu brechen. Ihre Lider schlossen
sich erneut, und sie sank hin an einen noch viel düstereren Ort.
Sie fing sich, zwang ihre Gedanken an die Oberfläche und öffnete durch
pure Willenskraft erneut die Augen. Jetzt fiel es ihr wieder ein:
Man verabreichte ihr Kräuter, um die Schmerzen zu betäuben und damit
sie schlafen konnte. Zumindest halfen ihr die Kräuter, in einen benommenen
Schlaf zu sinken, doch der Schmerz fand sie auch dort, wenn auch nicht
in seiner vollen Schärfe.
Langsam, vorsichtig, um die doppelschneidigen Dolche nicht zu drehen,
die sich da und dort zwischen ihre Rippen zu bohren schienen, wagte
sie einen tieferen Atemzug. Der Wohlgeruch von Balsam und Fichten
füllte ihre Lungen und half ihren Magen zu beruhigen. Das war nicht
der Duft von Bäumen, vermischt mit den anderen Gerüchen des Waldes,
mit feuchter Erde, großen Blätterpilzen und Zimtfarnen, sondern der
angenehme Geruch frisch gefällter und abgeästeter Stämme. Sie konzentrierte
sich darauf, ihren Blick über das Fußende des Bettes hinaus zu richten,
und erblickte eine Wand aus blassem, frisch entrindetem Holz, aus
dessen frischen Axtkerben hier und da Harz hervorsickerte. Das Holz
sah aus, als sei es in großer Eile geschlagen und gespalten worden,
seine Passgenauigkeit jedoch verriet eine Präzision, die nur Wissen
und Erfahrung einem verleihen kann.
Das Zimmer war winzig. Im Palast der Konfessoren, wo sie aufgewachsen
war, wäre ein so kleiner Raum nicht einmal als Wäscheschrank durchgegangen,
außerdem wäre er aus Stein gewesen, wenn nicht gar aus Marmor. Das
winzige hölzerne Zimmer gefiel ihr. Vermutlich hatte Richard es zu
ihrem Schutz errichtet, fast war es, als habe er seine schützenden
Arme um sie gelegt. Die reservierte Erhabenheit von Marmor hatte ihr
nie ein vergleichbares Gefühl der Behaglichkeit vermittelt.
Hinter dem Fußende des Bettes erblickte sie die Schnitzerei eines Vogels
im Flug. Sie war mit wenigen Messerhieben in einen Stamm der Wand
gemeißelt worden, auf eine ebene Stelle, nur wenig größer als ihre
Hand. Richard hatte ihr etwas dagelassen, das sie betrachten konnte.
Manchmal, wenn sie um ein Lagerfeuer saßen, hatte sie ihm dabei zugesehen,
wie er, ganz nebenbei, aus einem Stück Holz ein Gesicht oder ein Tier
schnitzte. Der Vogel, der auf seinen ausgebreiteten Schwingen schwebend
über sie wachte, vermittelte ein Gefühl von Freiheit.
Wenn sie ihre Augen nach rechts drehte, sah sie eine braune Wolldecke
vor der Tür hängen. Von jenseits der Tür drangen Fetzen aufgebrachter,
drohender Stimmen herein.
»Wir tun dies nicht aus freien Stücken, Richard … Wir müssen an unsere
Familien denken … an unsere Frauen und Kinder …«
Neugierig, was vor sich ging, versuchte Kahlan, sich auf ihren linken
Ellbogen zu stützen. Irgendwie gehorchte ihr der Arm nicht wie erwartet,
einem Blitz gleich schoss der Schmerz durch ihr Knochenmark und explodierte
in ihrer Schulter.
Keuchend ließ sie sich angesichts der quälenden Schmerzen beim Versuch
sich zu bewegen zurückfallen, noch bevor sie ihre Schulter auch nur
einen Zoll weit vom Bett anheben konnte. Ihr schweres Atmen drehte
die Dolche, die sich in ihre Seite bohrten. Sie musste sich zwingen,
langsamer zu atmen, um die stechenden Schmerzen unter Kontrolle zu
bekommen. Als die schlimmste Qual in ihrem Arm und die Stiche in ihrem