Fanfic: Stadt der Dämonen

Chapter: Stadt der Dämonen

Stadt der Dämonen






Es dämmerte, als sie erwachte. Der Himmel begann gerade, im Osten


heller zu werden, und die nächtlichen Schatten verhüllten die Stämme


und Zweige der großen Schattenbäume noch mit ihren tintenschwarzen


Schleiern. Sie lag eine Weile ruhig da, schaute durch die Vorhänge


ihres Fensters zu, wie der Tag anbrach und das Licht allmählich die


kühle Dunkelheit ihres Schlafzimmers erwärmte. Unter der Decke hervor


lauschte sie den Geräuschen des Morgens. Sie hörte Vogelgesang, der


einen Kontrast zu dem verklingenden Brummen eines Wagens bildete,


der den Asphalt der Woodlawn in Richtung des Highways entlangfuhr.


Sie vernahm das leise Knacken und Stöhnen des alten Hauses; einige


Geräusche waren ihr seit frühester Kindheit vertraut. Sie konnte den


Klang der Stimmen von Großmutter und Old Bob hören, die in der Küche


miteinander flüsterten, während sie ihren Morgenkaffee tranken und


darauf warteten, daß sie zum Frühstück kam.




Aber die Stimmen existierten natürlich nur in ihrer Vorstellung. Old


Bob und Großmutter waren fort.




Nest Freemark setzte sich auf, zog die langen Beine an die Brust, legte


die Stirn auf die Knie und schloß die Augen. Fort. Alle beide. Großmutter


seit fünf Jahren und Old Bob seit Mai. Es war schwer zu glauben, selbst


jetzt noch. Sie wünschte sich jeden Tag, daß sie die beiden zurückhaben


könnte. Und wenn es nur für fünf Minuten wäre. Oder auch nur für fünf


Sekunden.




Die Geräusche des Hauses hüllten sie beruhigend ein. Sie waren alle


ein Teil der neunzehn Jahre ihres Lebens. Sie hatte immer in diesem


Haus gelebt, bis zu dem Tag im letzten September, als sie aufs College


gegangen war: ein Stipendium an einer der angesehensten Hochschulen


des Landes. Northwestern University. Ihr Großvater war so stolz auf


sie gewesen. Er hatte ihr gesagt, daß sie sich immer daran erinnern


sollte, daß sie sich das Recht verdient hatte, diese Hochschule besuchen


zu dürfen, daß die Hochschule aber auch ihr Interesse verdient hatte


und so beide Seiten eigentlich ihren Vorteil aus dem Handel ziehen


müßten. Er hatte mit leiser, tiefer Stimme gelacht, und seine starken


Hände hatten sich um ihre Schultern gelegt, um sie an sich zu ziehen,


und sie hatte instinktiv gewußt, daß er sie für Großmutter mit umarmte.




Jetzt war er fort, drei Tage vor Ende ihres ersten Studienjahres an


einem Herzanfall gestorben. Es war in einem einzigen Augenblick vorüber


gewesen, hatte der Arzt hinterher gesagt - kein Schmerz, kein Leiden,


so, wie es sein sollte. Sie akzeptierte die Versicherung des Arztes,


aber das änderte nichts daran, wie sehr sie ihren Großvater vermißte.


Jetzt, da sowohl Großmutter als auch Old Bob nicht mehr lebten und


ihre Eltern schon viel länger fort waren, konnte sie sich nur noch


auf sich selbst verlassen.




Aber eigentlich, nahm sie an, war das auf gewisse Weise schon immer


so gewesen.




Sie hob den Kopf und lächelte. So war sie aufgewachsen, nicht wahr?


Indem sie gelernt hatte, allein zu sein, unabhängig zu sein, zu akzeptieren,


daß sie niemals so sein würde wie andere Kinder.




Sie ging die Dinge durch, in denen sie sich von anderen unterschied,


zählte sie in einer vertrauten Litanei auf, die ihr half, die Umrisse


ihres Lebens zu erkennen und festzulegen.




Sie konnte Magie wirken - und zwar bereits seit langer Zeit. Zunächst


hatte es ihr angst gemacht, sie verwirrt und erschreckt. Doch durch


die Unterweisungen ihrer Großmutter, die früher selbst Magie beherrscht


hatte, und später von Pick, hatte sie gelernt, sich den Forderungen


der Magie anzupassen. Sie hatte gelernt, sie zu kontrollieren und


zu pflegen, einen Platz in ihrem Leben für sie zu finden, ohne von


der Magie beherrscht zu werden. Sie hatte entdeckt, wie sie auf die


gleiche Weise, in der Pick stetig daran arbeitete, das Gleichgewicht


im Park zu bewahren, auch ihre eigene, innere Balance aufrechterhalten


konnte.




Pick, ihr bester Freund, war ein sechs Zoll großer Schrat, eine Kreatur


des Waldes, der aussah, als hätte ihn ein Kind aus den Überresten


eines Vogelnestes zusammengebastelt. Körper und Glieder schienen aus


Zweigen zu bestehen, während Haare und Bart aus Moos waren. Pick war


der Wächter des Sinnissippi Park, und seine Aufgabe bestand darin,


das Gleichgewicht der Magie zu bewahren, die alle Dinge durchdringt,


und zugleich die Fresser in Schacht zu halten, die bemüht waren, dieses


Gleichgewicht zu stören. Es war eine gewaltige Arbeit für einen einzelnen


Waldschrat, wie er immer wieder gern betonte, und über die Jahre hatten


ihm die verschiedenen Generationen der Freemark-Frauen dabei geholfen.


Nest war die jüngste von ihnen. Vielleicht würde sie auch die letzte


sein.




Dann war da natürlich ihre Familie. Granny hatte ebenso Magie wirken


können, wie andere Freemark-Frauen vor ihr. Old Bob hingegen nicht.


Er hatte vielmehr sein ganzes Leben darum kämpfen müssen zu akzeptieren,


daß es Magie überhaupt gab. Vielleicht hatte auch ihre Mutter keine


Magie besessen, die drei Monate nach Nests Geburt gestorben war und


deren Leben ihrer Tochter noch immer ein Rätsel war. Aber ihr Vater


… Sie schüttelte den Kopf. Ihr Vater. Sie dachte nicht gern an ihn,


aber er war eine Tatsache ihres Lebens, und es gab jetzt genug Zeit


und Abstand zwischen ihnen beiden, daß sie akzeptieren konnte, was


er gewesen war. Ein Dämon. Ein Monster. Ein Verführer. Der Mörder


sowohl ihrer Mutter als auch ihrer Großmutter. Jetzt war er tot, vernichtet


durch seinen eigenen Ehrgeiz und Haß, durch Grannys und seine eigene


Magie, durch Nests Entschlossenheit und durch Geist.




Geist. Sie blickte aus dem Fenster zu den zurückweichenden Schatten


und erschauderte. Die Dinge, in denen sie sich von anderen Kindern


unterschieden hatte, begannen und endeten mit Geist.




Sie seufzte und schüttelte spöttisch den Kopf. Genug von diesen Grübeleien.




Sie stand auf und ging ins Badezimmer. Sie drehte den Duschhahn auf,


ließ das Wasser heiß herausschießen und stellte sich darunter. Mit


geschlossenen Augen stand sie verloren in der Hitze und dem Dampf,


und das Wasser strömte auf sie herab. Sie war neunzehn Jahre alt und


knapp einen Meter siebzig groß. Ihre honigfarbenen Haare waren noch


immer kurz und kraus, aber die meisten Sommersprossen waren verschwunden.


Ihre grünen Augen beherrschten das glatte, runde Gesicht. Ihr Körper


war schlank und durchtrainiert. Sie war die beste Mittelstreckenläuferin,


die Illinois jemals hervorgebracht hatte, und gehörte auch darüber


hinaus zur Spitze. Sie dachte nicht oft über ihr Talent nach, aber


es war immer vorhanden, genau wie ihre Magie. Sie fragte sich häufig,


ob ihre Fähigkeit beim Laufen irgendwie mit der Magie zusammenhing.


Eine offensichtliche Verbindung gab es nicht, und Pick wiegelte solche


Vermutungen gern ab, aber Nest dachte dennoch darüber nach. Die Northwestern


hatte sie mit einem Leichtathletik-Stipendium angenommen. Ihre Noten


waren gut, aber es waren ihre sportlichen Leistungen, denen sie ihre


Aufnahme zu verdanken hatte. Bei den nationalen Jugendmeisterschaften


hatte sie im vergangenen Frühling mehrere Mittelstrecken-Wettbewerbe


gewonnen. Sie hatte bereits mehrere Collegerekorde und einen Weltrekord


gebrochen. In zwei Jahren fanden die Olympischen Spiele im australischen


Melbourne statt, und es wurde erwartet, daß Nest Freemark in mehreren


Wettbewerben um eine Medaille kämpfen würde. Mindestens eine goldene


sollte sie eigentlich gewinnen.




Sie drehte die Dusche ab, trat auf den Vorleger hinaus, griff nach


einem Handtuch und rubbelte sich trocken. Sie versuchte, nicht allzuoft


an die Olympischen Spiele zu denken. Sie lagen noch so weit in der


Zukunft, und der Gedanke war zu überwältigend, um darüber nachzusinnen.


Sie hatte mit vierzehn eine harte Lektion gelernt, als ihr Vater sich


als das offenbart hatte, was er war. Nimm niemals etwas in deinem


Leben als selbstverständlich; sei stets auf eine radikale Veränderung


vorbereitet.




Außerdem hatte sie zur Zeit dringlichere Probleme. Da war die Uni;


sie mußte Noten bekommen, die gut genug waren, daß sie mit dem Training


und den Wettkämpfen weitermachen konnte. Da war Pick, der beharrlich


darauf bestand, daß sie mehr von ihrer Zeit und Kraft darauf verwendete,


ihm mit dem Park zu helfen - was albern geklungen hatte, bis sie seine


Argumente gehört hatte.




Und dann war da im Augenblick noch die Sache mit dem Haus.




Sie zog sich langsam an und dachte dabei über das Haus nach, das der


Grund war, warum sie an diesem Wochenende zu Hause war, statt es in


der Uni mit Lernen zu verbringen. Mit dem Tod ihres Großvaters waren


das Haus und alles, was dazu gehörte, auf sie übergegangen. Den Sommer


hatte sie damit zugebracht, Zimmer für Zimmer, Schrank für Schrank


durchzugehen, zu katalogisieren, einzupacken und alle Dinge auszusortieren,


die sie nicht behalten wollte. Es war ihr Heim, aber sie war so selten


da, daß sie sich
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