Fanfic: Sternenkrone
Chapter: Sternenkrone
Sternenkrone 8
Eine Vision aus einer längst vergangenen Zeit
Sie kennt die Königinnen der Wüste aus den Geschichten, die nachts
am Herdfeuer erzählt werden. Die Wildnis, die die Menschen nicht zu
betreten wagen, wird von vielen verschiedenen Kreaturen heimgesucht.
Aber sie hätte nicht gedacht, dass sie sie einmal mit eigenen Augen
sehen würde.
Doch wenn sie sich in einem Traum befindet, wird ihr Blick dann deshalb
auf die in der Wildnis umherstreifenden Kreaturen gelenkt, weil sie
wirklich da sind, oder vielleicht nur, weil sie sie sehen möchte?
Vielleicht handelt es sich um eine Vision aus längst vergangener Zeit,
und als Nächstes sieht sie, wie die junge und gefährliche Königin
Pfeilhelle auf dem Rücken einer Löwenkönigin in die Wüste hinausreitet,
um die Geheimnisse der Jagd von denen zu erlernen, die sich schon
lange als Meisterinnen in der Kunst der Jagd und des Tötens erwiesen
haben.
Es muss in der Tat eine Vision sein, denn plötzlich sieht sie eine
kleine menschliche Gestalt aus dem Schutz eines großen Felsens treten;
es ist ein Mann, und er hat die Hände in einer Geste des Friedens
weit ausgestreckt. Zwei schwarze Hunde, die im Vergleich zu den hoch
aufragenden Sphingen geradezu winzig wirken, hocken zu seinen Füßen
und knurren leise.
»Alain!« Adica zuckte zusammen, doch eine Hand legte sich mit einigem
Nachdruck auf ihre Schulter.
»Still«, flüsterte Laoina.
Adica lag in dem bisschen Schatten, den der Felsklotz spendete. Steine
drückten schmerzhaft gegen Schulter und Hüfte, aber sie hatte nicht
die Kraft aufzustehen. Sie betastete das Bündel, auf dem ihr Kopf
ruhte, und stellte fest, dass es ihr eigener, zusammengerollter Umhang
war. Direkt dahinter und somit noch in ihrer Reichweite lag ihre Tasche
mit den kostbaren Regalien.
Plötzlich keuchte Laoina laut auf. Der Boden erzitterte. Das Sonnenlicht
stach Adica schmerzhaft in die Augen, als der Schatten des Felsklotzes
plötzlich verschwand. Laoina sank in demütiger Haltung zu Boden. Adica
rollte sich auf den Rücken und schaute auf - direkt in das Gesicht
einer nichtmenschlichen Frau, die drohend über ihr aufragte. Die
Löwenfrau hatte den Felsklotz mit einer Vorderpranke beiseite gerollt
und beraubte somit die beiden, die sich hinter ihm versteckt hatten,
seines Schutzes. Der Stein ruhte in ihrer Pranke wie ein Ball, der
gleich über die Erde rollen würde.
Ihre silbrige Mähne wehte, als würde Wind durch sie hindurchfahren.
Bernsteinfarbene Augen starrten auf sie herab. Die geschlitzten Pupillen
ließen die Löwenfrau weit weniger menschlich als das Pferde-Volk wirken;
die Zentaurinnen besaßen zwar Pferdeleiber, aber ihre Oberkörper und
Gesichter - und auch die Augen - glichen denen der Menschen. Das Gesicht
der Löwenfrau hatte dagegen zwar eine menschliche Form, doch konnte
Adica darin keinerlei Hinweis auf menschlichen Verstand entdecken.
»Ich bitte dich«, erklang Alains Stimme. Er schien hinter der Sphinx
zu stehen. »Wir kommen in Frieden. Wir haben nicht vor, dir und deinem
Volk Schaden zuzufügen.«
Die Löwenfrau warf den Felsklotz zur Seite. Er rollte polternd und
knirschend den Hang hinunter, bis er an dessen Fuß liegen blieb. Ein
Stück dahinter schmiegte sich der Steinwebstuhl in eine breite Senke
am Rand der Talsohle. Adica konnte sich nicht daran erinnern, wie
sie von dort unten heraufgekommen waren. Die Luft flimmerte vor Hitze.
Laoina hatte sich nicht gerührt, aber jetzt legte die Löwenfrau ihr
die Pranke beiläufig auf den Rücken - wobei sie die Krallen eingezogen
hatte - und drehte sie herum.
Adica kämpfte sich auf die Knie. »Ich bitte dich, Königin.« Ihre völlig
ausgedörrte Kehle ließ ihre Stimme zugleich heiser und piepsig klingen.
»Wir suchen den Stamm der Menschen, der von der heiligen Frau Helle-Hört-Mich
angeführt wird.«
Die Löwenfrau legte den Kopf leicht schief, als würde sie einem Geräusch
lauschen, das Adica nicht hören konnte, und ließ sich auf die Hinterbeine
nieder. Sie hob die Pranke, mit der sie Laoina umgedreht hatte, und
leckte sie nachdenklich. Sie besaß unglaublich viele scharfe, regelrecht
bösartig aussehende Zähne. Nachdem sie sich quälend lange um ihre
Pfoten gekümmert hatte, stand sie auf und schlenderte davon, als ob
sie ihre Gefangenen vergessen hätte. Vielleicht war sie auch einfach
nur nicht hungrig.
Laoina erhob sich schwankend. Sie sagte etwas in ihrer eigenen Sprache
- vielleicht war es ein Schwur -, bevor sie sich an Adica wandte.
»Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal eine so große Maoisinu sehen
würde.«
»Was war das?«, fragte Alain mit lauter Stimme und hockte sich neben
Adica hin. »Oh Gott, wir müssen aus der Sonne raus.«
Stöhnend mühte Adica sich auf die Beine, wobei sie das Gesicht zu einer
Grimasse verzog; sie war noch immer ganz benommen von den Nachwirkungen
des Zauberspruchs, der die Drachen erweckt hatte. »Hast du die Steine
berechnet?«, fragte sie Laoina. »Wo werden wir den Stamm von Helle-Hört-Mich
finden?«
Laoina musste nur auf die Oase deuten, die sich unterhalb des Abhangs
in der Wüste erhob. »Wir sollten schnell gehen, sehr schnell.«
Mit Alains Hilfe und auf Rages breiten Rücken gestützt, folgte Adica
einem Weg den Hügel hinunter, dann weiter über die von Sand und Kieselsteinen
bedeckte Ebene, die von der gnadenlosen Sonne wie festgebacken war.
Der Weg schien ewig zu dauern, als ob die Oase immer wieder vor ihnen
zurückweichen würde. Die Löwenfrau war verschwunden. Vielleicht war
sie auch nur eine Halluzination gewesen.
Der Geruch von Wasser stieg ihnen in die Nase. Sie stolperten in den
Schatten großer Bäume, deren Wedel sich in der Brise sanft wiegten.
Hier, im Schutz der Pflanzen, war es deutlich kühler. Sie ruhten sich
einen Augenblick aus und tranken ein bisschen Wasser, sammelten ihre
Kräfte. Aus einem Lager, das vor ihren Blicken verborgen war, drangen
die Geräusche einer menschlichen Siedlung zu ihnen: Gesang, Hammerschläge
auf Metall, das Geschrei eines Esels und das empörte Meckern von Ziegen.
»Seht nur!«, sagte Alain.
Eine kleinwüchsige Gestalt, von Kopf bis Fuß in bauschige Gewänder
gehüllt, kam vorsichtig auf sie zu. Sie hatte die Arme ausgebreitet
und streckte ihnen in der Geste des Friedens die Handflächen entgegen,
die mit verschiedenen Mustern in tiefblauer Farbe bemalt waren. Adica
öffnete schnell ihre Hände, um zu zeigen, dass auch sie in friedlicher
Absicht kamen. Sie folgten ihrer Führerin einen schmalen Pfad entlang,
der zwischen Gärten voller dicht belaubter Büsche und Bäume hindurchführte,
an denen ganze Trauben kleiner, grüner Früchte hingen. Purpurfarbene
und weiße Blumen von der Größe einer Hand ließen die Köpfe hängen.
Binsen säumten die Ufer eines Gewässers, das so schmal war, dass sie
es mit einem einzigen Schritt überqueren konnten; die Binsen streiften
dabei ihre Oberschenkel. Adica rann der Schweiß über den Rücken. Ihre
Beine kribbelten vor Hitze.
Sie überquerten ein zweites Gewässer. Es war breiter, und Adica war
dankbar, dass sie hindurchwaten konnte, weil so zumindest ihre Füße
etwas abgekühlt wurden. Schließlich erreichten sie den Mittelpunkt
des Gartens. Hier befand sich ein Teich, dessen Durchmesser ungefähr
der Entfernung entsprach, über die sie einen Stein werfen konnte.
Das Ufer war felsig, und sechs Bäche oder Kanäle gingen wie die Speichen
eines Rades von ihm aus. Rage und Kummer wateten ins Wasser, um zu
trinken. Auf der anderen Seite der Quelle gab es noch weitere kleine
Gärten, dicht bewachsen mit üppigem Grün, stark riechenden Kräutern,
Schösslingen von Einkorn und Bäumen voller Früchte, die so rötlich
waren wie Äpfel, aber dicker und runder. Auf kleinen Erdhügeln standen
von Weinreben umrankte Pfähle. Jenseits der Gärten erhoben sich Zelte
- so viele, dass Adica sie auf den ersten Blick nicht zählen konnte.
Eines dieser Zelte war deutlich größer als die anderen, höher und
breiter, und der Zeltstoff war so weiß und grell, dass sie ihre Augen
abschirmen musste. Überall um sie herum arbeiteten Mitglieder des
Stammes Essit. Die meisten von ihnen waren von Kopf bis Fuß in fließende
Gewänder gehüllt, sodass nur ihre Augen und Hände zu sehen waren.
Einige wenige, die sich mit kupfernen Armbändern schmückten, arbeiteten
im hellen Sonnenlicht. Sie trugen Unterhemden und eine lockere Kopfbedeckung,
und auf ihren Wangen waren Brandzeichen zu erkennen.
Kinder rannten nackt herum; sie kreischten und kicherten, flüsterten
miteinander und starrten die Fremden an, hielten aber immer einen
bestimmten Abstand zu ihnen. Hinter dem Zeltlager stieg eine Kakophonie
aus unterschiedlichsten Geräuschen auf; ein Hinweis auf die Schaf-,
Ziegen- und Eselherden, die sich dort befanden.
Ihre Führerin brachte sie zu dem heiligen Zelt. Im Schatten des gestreiften
Vorzelts