Fanfic: Die Zauberschiffe

Chapter: Die Zauberschiffe

Die Zauberschiffe




Loyalitäten




Kennit betrachtete die Schriftrolle in seiner Hand. Auf dem Schreibtisch


lagen die zerbrochenen Wachsstücke des Siegels von Sincure Faldin.


Der ehrbare Händler hatte sich mittlerweile mit dem Verlust seiner


Frau und einer seiner Töchter abgefunden. Seine Söhne und sein Schiff


hatten den Angriff der Sklavenhändler auf Divvytown unbeschadet überstanden,


weil sie zu der Zeit geschäftlich unterwegs gewesen waren. Wie Kennit


Sorcor prophezeit hatte, akzeptierte Sincure Faldin die Heirat von


Kennits Kapitän mit seiner überlebenden Tochter Alyssum, ohne zu zögern.


Der durjanische Händler hatte schon immer über einen ausgezeichneten


Instinkt dafür verfügt, wer die Macht besaß. So entsprang sicher auch


diese dringende Nachricht an Kennit seinem Bemühen, sich bei dem König


der Piraten einzuschmeicheln. Genau deshalb betrachtete der sie auch


mit der gebotenen Skepsis.




Die Handschrift war gestochen scharf, die Formulierungen übertrieben


gedrechselt. Das erste Drittel der Seite nahm ein ausschweifender


Gruß ein, dem sich die besten Wünsche für Kennits Gesundheit anschlossen.


Es war typisch für den immer etwas zu pompös gekleideten Durjaner,


dass er Tinte und Zeit so umständlich verschwendete, bevor er endlich


zu seinen dringenden Neuigkeiten kam. Obwohl ihm das Herz in der Brust


hämmerte, zwang sich Kennit, die Schriftrolle mit vollkommen unbewegter


Miene zu lesen, während er sich bemühte, aus der blumigen Prosa des


Händlers die Fakten herauszusieben. Offenbar hatte Faldin den Fremden


misstraut, die nach Divvytown gekommen waren, und als einer der Ersten


vermutet, dass es sich bei dem Schiff um ein Lebensschiff handelte.


Er hatte den Kapitän und dessen Frau von seinem Sohn in seinen Laden


lotsen lassen und ihnen Anekdoten erzählt, um ihnen vielleicht ihre


eigenen Geschichten zu entlocken. Viel gebracht hatte es aber nicht.




Ihre plötzliche Abreise mitten in der Nacht war genauso merkwürdig


wie ihr plötzliches Auftauchen. Und die Geschichten der Männer, die


das Schiff verlassen hatten, erhärteten am nächsten Tag Faldins Verdacht.


An Bord befand sich eine Althea Vestrit, die behauptete, sie wäre


die Eignerin der Viviace. Die Mannschaft des Lebensschiffes war eine


eigenartige Mischung aus Frauen und Männern, Seeleuten und ehemaligen


Sklaven, und als Kapitän fungierte ein gewisser Brashen, der vorher


auf der Springeve gefahren war. Gerüchten zufolge handelte es sich


bei ihm um einen Händlersohn aus Bingtown.




Der fein säuberlich mit Tinte notierte Name brannte sich in Kennits


Augen ein. Es fiel ihm schwer, sich auf die verschlungenen Buchstaben


zu konzentrieren, die folgten und den neuesten Klatsch zitierten.


Sie sprachen von Gerüchten, die auf Nachrichten von Brieftauben beruhten.


Angeblich sammelte Jamaillia eine Flotte, die nach Norden segeln und


eine Strafaktion gegen Bingtown durchführen sollte, weil die Händler


den Satrapen entführt und seine Zollpier demoliert hätten. Faldin


war davon überzeugt, dass der Adel von Jamaillia schon lange nach


einem Vorwand gesucht hatte, Bingtown zu plündern. Offenbar hatte


er jetzt einen gefunden.




Kennit mochte diese Geschichte kaum glauben. Der Satrap sollte Jamaillia


verlassen haben, nach Bingtown gesegelt und dort entführt worden sein?


Die ganze Geschichte erschien ihm ziemlich abwegig. Der wesentliche


Punkt der Gerüchte war natürlich, dass Jamaillia als Vergeltungsmaßnahme


eine Flotte ausrüstete. Kriegsschiffen, die zielstrebig durch die


Gewässer der Pirateninseln segelten, sollte man besser aus dem Weg


gehen. Wenn sie jedoch mit ihrer Kriegsbeute zurückkehrten, waren


sie eine fette Prise. Seine Seeschlangen würden dafür schon sorgen,


dass dieser Piratenzug nahezu mühelos vonstatten ging.




Die Botschaft schloss mit einem weiteren Schwall demütiger Komplimente


und guter Wünsche sowie einer ziemlich dreisten Erinnerung an Kennit,


nicht zu vergessen, dass Sincure Faldin ihm diese Nachrichten geschickt


hatte. Faldins Unterschrift war eine komplizierte Signatur in zwei


verschiedenen Farben, der ein geschmackloses Postskript folgte, in


dem der Händler beschrieb, wie prall Alyssum mittlerweile von Sorcors


Samen angeschwollen war.




Kennit legte die Schriftrolle auf den Schreibtisch und sah zu, wie


sich das verdammte Ding wieder aufrollte. Sorcor und die anderen,


die sich in seiner Kabine versammelt hatten, standen regungslos da


und warteten auf die Neuigkeiten. Der Bote hatte Faldins nachdrücklichen


Befehl befolgt und die Nachricht zunächst Sorcor überbracht, damit


der sie sofort an Kapitän Kennit weiterleitete. Vermutlich wollte


Faldin damit erreichen, dass Sorcor Zeuge wurde, wie klug und loyal


sein Schwiegervater sich verhielt.




Oder steckte mehr dahinter? Erahnten Sorcor und Faldin, was diese Neuigkeiten


für Kennit bedeuteten? Hatte es vielleicht noch eine Nachricht gegeben,


die nur für Sorcors Augen bestimmt gewesen war? Hatte Faldin Sorcor


darin gebeten, genau zu beobachten, wie sein Kapitän reagierte? Einen


Moment nagten Zweifel und Misstrauen an Kennit, doch sie verflogen


im Nu. Sorcor konnte nicht lesen. Falls Faldin versucht haben sollte,


seinen Schwiegersohn zu einem Komplott gegen Kennit zu bewegen, hatte


er sich den Falschen ausgesucht.




Als Kennit die Beschreibung und den Namen des Lebensschiffs das erste


Mal las, hatte sich sein Herz in der Brust verkrampft. Er musste sich


zwingen, ruhig weiterzuatmen und sich äußerlich nichts anmerken zu


lassen. Während er das Pergament langsam ein zweites Mal überflog,


brachte er seine Stimme und sein Verhalten wieder unter Kontrolle.


Die Nachricht warf einige Fragen auf. Ahnte Faldin die Verbindung?


Und wenn ja, wie kam er darauf? Er erwähnte nichts davon, es sei denn,


es verbarg sich eine Andeutung dahinter, dass Matrosen vom Paragon


gesprungen waren. Wussten diese Seeleute etwas, und hatten sie geredet?


Wusste Althea Vestrit es, und wenn ja, hatte sie vor, Paragon irgendwie


als Waffe gegen ihn zu benutzen? Wenn es tatsächlich bekannt war,


wie verbreitet war es? Konnte man es durch den Tod einiger Männer


und die erneute Versenkung des Paragon eindämmen?




Würde seine Vergangenheit denn niemals ruhen?




Einen Augenblick spielte Kennit mit dem Gedanken an Flucht. Er musste


nicht nach Divvytown zurückkehren. Er hatte ein Lebensschiff unter


seinem Kommando und eine ganze Armada von Seeschlangen zu seiner Verfügung.


Er konnte alles aufgeben und irgendwo anders hingehen, wo Wasser war,


und dort immer noch ein Vermögen machen. Er müsste natürlich von vorn


beginnen und seinen Ruf erneut aufbauen, aber die Seeschlangen würden


dafür sorgen, dass dies schnell geschah. Er hob kurz den Blick und


musterte die Leute, die in seiner Kabine warteten. Bedauerlicherweise


würden sie alle sterben müssen. Selbst Wintrow, dachte er, und ein


schmerzhafter Stich durchzuckte ihn. Außerdem würde er sich seiner


gesamten Mannschaft entledigen und sie irgendwie ersetzen müssen.


Doch das Schiff würde immer noch wissen, wer er einmal gewesen war







»Kapitän?«, drängte Sorcor behutsam.




Der Tagtraum zerplatzte wie eine Blase. Es war nicht durchführbar.


Viel praktikabler war eine Rückkehr nach Divvytown. Er konnte dort


alle beseitigen, die Misstrauen geschöpft hatten, und weitermachen


wie zuvor. Natürlich gab es immer noch das Schiff, aber er war schon


einmal mit dem Paragon fertig geworden. Er würde es eben noch einmal


tun müssen. Diesen Gedanken schob er einfach zur Seite. Er konnte


sich dieser Angelegenheit noch nicht stellen.




»Schlechte Neuigkeiten, Käpt`n?«, wagte Sorcor zu fragen.




Kennit rang sich ein rätselhaftes Lächeln ab. Er würde die Nachrichten


weitergeben und darauf achten, wie seine Leute reagierten. »Neuigkeiten


sind Neuigkeiten, Kapitän Sorcor. Es liegt am Empfänger, ob er etwas


Gutes oder Schlechtes daraus macht. Diese Nachrichten hier sind zumindest


… interessant. Sicher freut es uns alle zu hören, dass deine Alyssum


immer runder wird. Sincure Faldin berichtet auch von einem merkwürdigen


Schiff, das Divvytown besucht hat. Angeblich will es uns bei unserem


Feldzug gegen die Sklavenhändler in der Inneren Passage helfen. Aber


unser guter Freund Faldin war nicht von der Aufrichtigkeit der Mannschaft


überzeugt. Das Schiff ist ziemlich geheimnisvoll aufgetaucht, hat


offensichtlich mitten in der Nacht die Zufahrt zum Hafen bewältigt


und ist auf dieselbe Art und Weise verschwunden.« Er warf einen beiläufigen


Blick auf das Pergament. »Außerdem geht das Gerücht um, dass Jamaillia-Stadt


eine Flotte aufstellt, um Bingtown niederzubrennen. Angeblich als


Vergeltung für irgendeine Beleidigung gegen den Satrapen.«




Kennit lehnte sich gelassen auf seinem Stuhl zurück, damit er die Anwesenden


besser im Blick hatte. Etta war da, und Wintrow stand direkt neben


ihr. Der Junge scheint in letzter Zeit kaum noch von ihrer Seite zu


weichen, schoss es Kennit durch den Kopf. Sorcor
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