Fanfic: Acorna

Chapter: Acorna

Acorna




Etwa sechs Wochen nachdem sie zur Besatzung der Condor, des Flaggschiffs


der Interplanetaren Bergungs- und Wiederverwertungsgesellschaft Becker


mbH gestoßen war, saß Acorna auf »Bergungswache« am Ruder des Schiffs,


umgeben von den matt schimmernden Konsolenlichtern am Cockpit und


den Milliarden von Sternen dahinter. Sie war zufrieden, beinahe, als


wäre sie wieder zu Hause - in jenem ersten Heim, an das sie sich erinnern


konnte, dem Erzschürferschiff, auf dem sie mit ihren Adoptivonkeln


gelebt hatte. Fürs Erste hatte sie das komplizierte Gesellschaftssystem


der Linyaari und ihre vielschichtige Kultur hinter sich gelassen.


Stattdessen lag das gesamte Universum vor ihr, dessen Komplexität


in den Notizen, Bändern und Akten von Kapitän Jonas Becker und seinem


berühmten Vater, dem Astrophysiker und Bergungsmagnaten Theophilus


Becker, festgehalten war.




Um während der langen Wachen etwas zu tun zu haben, hatte sie sich


daran gemacht, all diese Aufzeichnungen methodisch in Karten einzutragen,


sodass die Planeten, Monde, Wurmlöcher, Schwarzen Löcher, »gefalteten«


Raumbereiche, der »Schwarzwasser«-Raum und andere Bereiche, die die


Beckers aufgesucht hatten, leichter wiederzufinden wären, falls dies


einmal notwendig sein sollte.




Becker hatte zunächst gemurrt, als Acorna damit begonnen hatte. Seit


dem Tod seines Adoptivvaters Theophilus Becker, von dem er sowohl


die Condor als auch das Bergungsunternehmen geerbt hatte, war Jonas


Becker Herr und Meister der Condor gewesen, und nur Satansbraten -


kurz SB genannt -, der riesige makahomanische Tempelkater, den er


aus einem Wrack gerettet hatte, hatte ihm dabei Gesellschaft geleistet.


Becker mochte es nicht, wenn man seine Sachen anfasste oder sie gar


woanders hinräumte. Doch Acorna hatte festgestellt, dass SB sich oft


aus den Ausdrucken der Notizen Nester baute, sie zerfetzte, wenn ihm


gerade danach war, und in ein paar bedauerlichen Fällen hatte er ihnen


seine ganz privaten - und mit einem ausgesprochen durchdringenden


Geruch versehenen - Randbemerkungen hinzugefügt, wenn ihm der Zustand


seiner Bordtoilette nicht zusagte. Obwohl Acorna den Gestank und die


Flecken leicht wieder entfernen konnte, war selbst sie nicht im Stande,


die zerfetzten Papiere wieder lesbar zu machen. Es war unbedingt notwendig,


dass irgendwer die Notizen in die Karte übertrug, bevor SB sie sich


alle angeeignet hatte. Nach ein paar »sachlichen Gesprächen« hatte


Jonas aufgehört zu murren und Acorna weitermachen lassen.




Zunächst war SB auf der Brücke geblieben, um Acorna bei ihrer Arbeit


zu helfen, später jedoch hatte er sich auf der Suche nach etwas Essbarem


oder einem Schlafkumpan davongemacht. Vermutlich war seine Wahl bezüglich


des Letzteren auf Aari gefallen, der neben Becker das einzige weitere


Besatzungsmitglied war.




Wie Acorna war auch Aari Linyaari, gehörte also einem humanoiden Volk


an, das pferde- und einhornähnliche Züge hatte - darunter eine wehende


lockige Mähne, dünne, seidige Haarfransen von den Fußknöcheln bis


zum Knie, Füße mit jeweils zwei harten Zehen und dreifingrigen Händen


mit einem Knöchel an jedem Finger statt zweien. Das verblüffendste


Merkmal der Linyaari allerdings - zumindest für Menschen - war das


schimmernde, spiralförmig gedrehte Horn in der Mitte der Stirn. In


Aaris Fall jedoch war das Horn bei Folterungen, die er als Gefangener


gefräßiger insektenartiger Fremdwesen - die Khleevi - erlitten hatte,


mit Gewalt entfernt worden. Aaris andere Wunden waren auf Narhii-Vhiliinyar,


der Welt, auf die die Linyaari geflohen waren, als die Khleevi ihren


ursprünglichen Heimatplaneten Vhiliinyar besetzten, geheilt worden,


sein Horn jedoch hatte sich nicht regeneriert.




Für einen Liinyar war dies eine schreckliche Wunde. Das Horn eines


Liinyar hatte verblüffende, beinahe magische Kräfte. Die Hörner hatten


die Macht, alles zu reinigen - auch Luft, Wasser und Lebensmittel


-, sie konnten Kranke heilen und dienten auch bis zu einem gewissen


Grad als eine Art Antenne für die geistige Kommunikation zwischen


den Angehörigen dieses Volkes.




Acorna hatte viel über die Kraft ihres Horns und über ihr Volk gelernt,


als sie mit einer Linyaari-Delegation nach Narhii-Vhiliinyar gekommen


war. Leider waren ihre Tante und deren beide Schiffskameradinnen wegen


eines Notfalls sofort wieder auf eine neue Reise geschickt worden,


und Acorna war unter Fremden zurückgeblieben und hatte versucht, sich


an die Kultur ihres Volkes zu gewöhnen - eines Volkes, mit dem sie


keinen Kontakt mehr gehabt hatte, seit sie ein Kleinkind gewesen war.




Ihre einzigen wahren Freunde auf Narhii-Vhiliinyar waren die Älteste


der Linyaari, Großmama Naadiina, gewesen, und Maati, ein kleines Mädchen,


die verwaiste jüngere Schwester von Aari, die der Viizaar als Botin


diente.




Als Becker unerlaubterweise auf Narhii-Vhiliinyar gelandet war, um


Aari und alle Gebeine des alten Linyaari-Friedhofs auf den neuen Heimatplaneten


des Volkes zu bringen, hatten Acorna, Großmama Naadiina und Maati


dem Begrüßungskomitee angehört. Aari war zu diesem Zeitpunkt von der


Folter durch die Khleevi immer noch schrecklich entstellt gewesen,


und die Viizaar Liriili und einige andere nicht sonderlich sensible


und mitfühlende Linyaari hatten ihm die Rückkehr nicht leicht gemacht.




Vielleicht war es ihre eigene Einsamkeit gewesen, die Acorna zu Aari


hingezogen und in der sie einen Spiegel gefunden hatte. Als ein Notruf


Becker von Narhii-Vhiliinyar weggerufen hatte, waren Acorna und Aari


mit ihm gekommen. Sie hatten bei einer Krise helfen können, die sowohl


einige von Acornas menschlichen Freunden als auch die Linyaari bedrohte.


In der Folge war ein Ableger einer föderationsweiten kriminellen Organisation


vernichtet und viele Linyaari-Raumfahrer, darunter auch Acornas geliebte


Tante, zusammen mit den anderen Gefangenen der Verbrecher gerettet


worden. Acorna, Becker, Aari und Acornas Onkel Hafiz, der ebenfalls


an der Rettung beteiligt gewesen war, standen nun hoch in der Gunst


der Linyaari.




Acorna hätte bequem auf Narhii-Vhiliinyar bleiben können, nachdem ihre


Tante und die anderen raumfahrenden Linyaari dorthin zurückgekehrt


waren. Doch sie war lieber mit Becker und Aari weitergezogen.




Sie bedauerte diese Entscheidung nicht. Sie war vielleicht auf einem


friedlichen Planeten zur Welt gekommen, der von Geschöpfen bevölkert


war, die sich telepathisch miteinander verständigen konnten, aber


die Art, wie sie aufgewachsen war, hatte sie anders werden lassen


als die Angehörigen ihres Volkes, und das war für beide Seiten manchmal


ein Problem. Der Weltraum war ihr vertraut, und sie empfand die Verschiedenheit


seiner Völker, Spezies und Persönlichkeiten als äußerst stimulierend.


Sicher, hier zu sitzen, in aller Ruhe Koordinaten einzutragen und


dann die Augen ein wenig auszuruhen, indem sie sich die Sterne ansah


- das war im Augenblick nicht sonderlich aufregend, doch diese friedliche


Umgebung tat ihr gut. Die Routine dieser Wache war irgendwie tröstlich,


und Acorna befand sich im Einklang mit dem Universum.




Vielleicht, dachte sie, lebt man wirklich nur in Märchen glücklich


bis an sein Ende, aber es ist allemal ruhevoll und heilsam, hin und


wieder glücklich zu sein.




Die Kabinenlichter flackerten auf und erfüllten ihre sternenbeleuchtete


Welt mit der blendenden Helligkeit der Tagschicht. Sie blinzelte ein


paarmal, bis sich ihre Augen daran gewöhnt hatten.




»He, Prinzessin!«, sagte Becker. »Deine Wache ist vorbei. Was ist los


mit dir - sitzt da so im Dunkeln und tippst vor dich hin? Hat dir


nie jemand gesagt, dass das schlecht für die Augen ist?«




Er stellte sich hinter sie und starrte ihr so angestrengt über die


Schulter, dass sein buschiger Schnurrbart, der SBs Halskrause sehr


ähnlich war, ihr Horn streifte. Becker roch intensiv nach dem Aftershave,


das er benutzte, seit er begonnen hatte, sich wieder zu rasieren -


kurz nachdem Acorna an Bord gekommen war. Es ging ihm nicht darum,


sie auf diese Weise beeindrucken und um sie werben zu wollen, das


wusste sie. Es war nach menschlichen Maßstäben einfach ein altmodisches


Zeichen der Höflichkeit und des Respekts ihrem Geschlecht gegenüber.


»He, was ist das denn? Du hast den ganzen Flug eingetragen, von unserem


ersten Abflug von Narhii-Vhiliinyar zu diesem Mond, wo Ganoosh und


Ikwaskwan deine Leute gefangen gehalten haben, und den gesamten Rückweg!


Ich dachte, bei all der Aufregung und dem ganzen Hin- und Herspringen


würde das niemand je wieder nachvollziehen können. Wie hast du das


bloß geschafft?«




»Du hast gute Notizen gemacht, Kapitän«, erwiderte sie lächelnd.




»Mann, das ist toll! Und so schnell! Wo hat ein hübsches junges Ding


wie du das gelernt?«




»Elementar, lieber Becker«, sagte Aari, der hinter dem Kapitän hereingekommen


war und über ihm aufragte. Aari war hoch gewachsen und schlank und


jetzt, nachdem seine Knochenbrüche richtig verheilt
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