Fanfic: Der Kreis der Orokon

Chapter: Der Kreis der Orokon

Der Kreis des Orokon





1. Der Feuerberg




Wie aberhunderte von bunten Blumen, die man achtlos über das Meer gestreut


hatte, verteilten sich die Inseln von Wenaya in einem großen, zerklüfteten


Bogen vom Festland des El-Orok ausgehend übers Meer. Wo genau diese


Inseln enden, ist ein Geheimnis, jedenfalls für die Seeleute des El-Orok,


mögen sie Ejländer, Zenzander oder Unangesen sein. Einige behaupten,


hinter den Inseln läge ein weiterer Kontinent, dessen Ausmaß das ihres


eigenen weit übersteige. Andere wiederum vermuten, dass dort, wo diese


Inseln enden, auch die Erde ende und das Meer sich in einen gewaltigen


Graben ergieße. Man munkelt von Fischmenschen und monströsen Seeschlangen.


Bei all dem handelt es sich zweifellos um Aberglauben, aber selbst


die härtesten Burschen auf den großen Segelschiffen Ejlands, der mächtigsten


Nation des El-Orok, verzagten, wenn sie sich weiter in diese wässrigen


Labyrinthe von Wenaya hineinwagten. Die Inseln und auch das Meer,


in dem sie sich befinden, sind gefürchtete Orte voller schwarzer Magie.




Das hatte Prinz Jemany vor langer Zeit während der trübsinnigen Nächte


in Lord Empsters Bibliothek in den Reiseberichten gelesen. Damals


in Agondon hätte Jem es sich niemals träumen lassen, dass er selbst


einmal zu diesen Inseln kommen würde, und das auch noch auf einem


fliegenden Teppich!




Jem seufzte, streckte sich auf dem heißen Stoff aus und schloss die


Augen. Die Glut der Morgensonne erwärmte den Teppich, der angenehm


nach Weihrauch duftete. Wie er diese wunderbare Nacht genossen hatte,


eingehüllt in diese duftende Mulde! Umhüllt von der Magie des Dschinns


hatte er keinerlei Angst verspürt. Jetzt jedoch ließ diese Magie eindeutig


nach. Konnte sie nicht noch ein bisschen länger anhalten?




Warmer Wind strich durch sein zerzaustes Haar, und erneut sank er,


nicht unwillig, in den Schlaf zurück. Sanft legte er einen schützenden


Arm um Regenbogen. Der gestreifte Hund lag hechelnd neben ihm, hatte


den Kopf auf die Pfoten gelegt und schlug immer wieder die Augen auf.


Sein neues Silberhalsband blitzte in der Sonne. Es war ein Geschenk


von Prinzessin Bela Dona, diesem merkwürdigen, wunderschönen Mädchen,


mit dem Jem und seine Gefährten in Unang Lia Freundschaft geschlossen


hatten. Die Prinzessin hatte ihnen versichert, dass dieses Band magische


Kräfte besaß. Aber diese Magie, wenn es sie denn überhaupt gab, musste


sich erst noch zeigen.




Verträumt lauschte Jem den Stimmen Rajals und des Kleinen. Die beiden


spekulierten gerade darüber, wo der Teppich wohl landen würde.




Das war eine sehr gute Frage.




»Kannst du etwas sehen, Kleiner?«, wollte Rajal wissen.




Der Kleine saß mit gekreuzten Beinen vorgebeugt da und starrte in die


Kugel des Sehens, sein eigenes geheimnisvolles Geschenk von Prinzessin


Bela Dona. Der kleine unangesische Junge hatte kaum einen Blick für


die reale Szenerie übrig, die unter ihm vorüberglitt. Mithilfe seines


strahlenden neuen Talismans strengte er sich stattdessen an, mehr


über ihr Ziel herauszufinden. Wenaya ja, aber wo genau?




Als Jafir, der Dschinn, ihren Teppich auf den Weg gebracht hatte, waren


Jem und seine Gefährten einfach nur froh gewesen, mit voller Kraft


losfliegen zu können. Sie hatten sich wenig Gedanken darüber gemacht,


wo ihre Reise enden mochte.




Jetzt fragten sie sich, ob möglicherweise auch Jafir nicht daran gedacht


hatte.




Der Kleine starrte angestrengt in die Kugel. Prinzessin Bela Dona hatte


ihm nicht genau erklärt, wie er sie benutzen sollte - falls sie es


überhaupt wusste. Gab es da vielleicht eine spezielle Art des Sehens?


In der runden Kristallkugel fingen sich bläuliche Reflexionen.




»Etwas …«, murmelte er. »…eine Art …Blau …«




»Das ist der Himmel, du Dummkopf!«, sagte Raj. »Lass mich mal sehen


…«




»Hände weg! Die Kugel gehört mir …«




»Dann sieh doch genauer hin.« Ungeduldig spielte der Vaga-Junge mit


seinem eigenen Talisman, dem Amulett von Tukhat, das er um sein Handgelenk


trug. Konnte es ihn wirklich vor allem Übel bewahren? Wenn ja, überlegte


er bedauernd, dürfte das eine ziemliche Herausforderung sein, wenn


ich meine früheren Erfahrungen bedenke. In Unang Lia war er dem Tod


nahe gewesen - und er hatte Qualen ausgestanden, die vielleicht noch


schlimmer gewesen waren. Er schüttelte seinen dunklen Lockenkopf,


als wollte er seine finsteren Gedanken damit vertreiben.




Aber ganz gelang es ihm nicht.




»Wir müssen bald landen, nicht wahr?«, fragte er ungeduldig.




»Ja, stimmte ihm der Kleine zu. »Aber wo?«




Tief im Dschungel waberte die Hitze geheimnisvoll und drohend. Die


Feuchtigkeit stieg langsam vom Boden auf und tropfte dann wieder von


den zusammengerollten merkwürdigen Blättern zurück, von den Blumen


mit ihren geschlossenen Kelchen und den gefleckten Pilzen mit ihren


riesigen Kappen. Selbst die grelle Morgensonne drang nur spärlich


durch das dichte Blätterdach.




Es krachte im Unterholz, dann ertönten Stimmen.




»Das ist unsere letzte Chance.« Es war eine Jungenstimme.




»Hast du das nicht schon beim vorigen Mal gesagt?«, protestierte ein


anderer Junge. Er führte eine widerwillige Färse an der Leine.




»Wir leben doch noch, oder? Uchy, benimm dich nicht wie ein Dummkopf.«




»Ich, ein Dummkopf? Und was ist mit Leki, Ojo?«




»Er ist mehr als ein Dummkopf, er ist der König der Dummköpfe!«




»Das meine ich nicht. Ich meine, was wird er sagen, wenn er herausfindet,


was wir getan haben?«




Sie waren zu zweit, beide etwa vierzehn oder fünfzehn Umläufe alt.


Ojo, derjenige, der voranging, war untersetzt und stämmig. Ucheus,


der, der die Färse hinter sich herzerrte, war schlank, beinahe zierlich.


Die Haut der Jungen war dunkelbraun, und ihre Haare waren ungekämmt.


Ojo hatte zerzauste Locken, sein Gefährte eine Mähne aus wirren Stacheln.


Flaum wuchs auf ihren Oberlippen, und ihre Gliedmaßen waren von Kratzern


übersät. Sie waren schmutzig, und ihre Tuniken, die einmal sehr schön


gewesen sein mussten, hingen jetzt in Fetzen an ihnen herunter. Sie


kämpften sich durch den allgegenwärtigen Dschungel bergauf.




»Leki sollte froh sein, dass jemand die Verantwortung übernommen hat.«




»Aber Leki glaubte, dass er die Verantwortung hat«, gab Ucheus zweifelnd


zu bedenken.




»Ja, und sieh dir nur die Klemme an, in der wir stecken.«




Dagegen war nicht viel zu sagen. Ucheus presste die Lippen zusammen


und folgte dem anderen Jungen eine Weile schweigend. Er zerrte immer


wieder an dem Strick der widerspenstigen Färse, und zwar jedes Mal


ein bisschen kräftiger. Wie er es hasste in ihre großen, traurigen


Augen zu blicken! Hoffentlich musste er nicht zusehen, wenn Ojo ihr


den Hals durchschnitt. Ucheus hatte zwar mehr Zeit auf dem Hof seines


Castor-Onkels verbracht, aber Ojo war immerhin Sohn eines Priesters


von Aroc.




Wenn es nur endlich vorbei wäre! »Kyra, komm endlich!«




Ojo verdrehte die Augen. »Dummkopf, musstest du ihr denn auch einen


Namen geben?«




»Ich gebe allen Tieren Namen. Hast du denn gar nichts in der Heiligen


Schule gelernt, Ojo? Ein Name ist ein Glücksbringer gegen das Böse.«




»So richtig klappt das dann ja wohl nicht, hm?«




»Jedenfalls nicht für Kyra, denke ich.«




»Für uns auch nicht.«




»Was?«




»Wir alle hatten Namen. Und jetzt sind wir tot.«




»Nicht alle«, widersprach Ucheus. »Wir leben, das hast du selbst gesagt.«




Ojo schob sich durch ein Dickicht klebriger Lianen. »Und sieben von


uns nicht.«




»Sieben? Nein, Ojo … Sechs.«




»Du meinst Maius Eneo? Du wünschst dir doch nicht immer noch, dass


du mit ihm gegangen wärst, oder doch?«




»Natürlich tue ich das!«, widersprach Ucheus gereizt.




Die Antwort seines Freundes war brutal. »Maius Eneo ist ertrunken,


Uchy. Am ersten Tag. Wenigstens in diesem Punkt hatte Leki Recht.«




»Leki? Du hast eben noch gesagt, er wäre der König der Dummköpfe!«




»Was das angeht nicht. Akzeptiere es endlich, Uchy!«




Der schlanke Junge schlug den Blick nieder. Wie konnte Ojo so reden?


Brachte es nicht schon Unglück, allein solche Gedanken zu äußern?


Wenn am Ende nur einer von ihnen überlebte, dann würde es Maius Eneo


… Nein, er konnte niemals im Meer ertrunken sein. War er nicht der


beste Schwimmer von ihnen allen? Ja, war er nicht in allem der Beste


gewesen? Maius Eneo würde die Insel Hora bestimmt erreichen, und er


würde Hilfe holen. Vielleicht war er sogar schon auf dem Weg hierher!




Ucheus war wütend, und er wünschte, er hätte den Mut, vorwärts zu stürmen,


Ojo zu Boden zu werfen und ihn dazu zu bringen, die Dummheiten zurückzunehmen,


die er gesagt hatte.




Aber sie konnten ja wohl schlecht miteinander kämpfen. Jedenfalls nicht
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