Fanfic: Der magische Schlüssel

herausgezogen«, sagte


die Waldhexe gereizt, während sie das Buch schloss und es neben ihrem


Stuhl ablegte. Sie war eine sehr kleine Frau. Ihr eisenfarbenes Haar


war zu einem langen, über den Rand des Stuhls herabhängenden Zopf


geflochten, der bis auf den Boden reichte. Eine weiße Strähne begann


an ihrer linken Augenbraue und wand sich durch den ganzen Zopf. Ihr


Vertrauter, ein Donbeag namens Gitâ, kauerte auf den niedrigen Dachsparren


über ihrem Kopf und nagte geziert an einer Nuss, die er in den Pfoten


hielt.




»Natürlich nicht! Du hast es mich besser gelehrt«, erwiderte Isabeau


und ließ ihr Bündel auf den handgefertigten Holztisch plumpsen.




»Du musst hungrig sein. Wir haben gerade etwas Tee getrunken. Gieß


dir eine Tasse ein.«




Wir? Isabeau richtete sich überrascht auf und sah erst jetzt die Frau


auf dem Stuhl auf der andern Seite des Feuers sitzen, durch die flackernden


Schatten halbwegs verborgen. Es war Isabeau nicht in den Sinn gekommen,


dass Meghan mit jemand anderem als Gitâ gesprochen haben könnte, denn


in den ganzen sechzehn Jahren, in denen Isabeau schon in diesem Tal


lebte, hatte sie niemals zuvor jemand besucht. Das Tal war weit von


der Stadt und jeglichem Dorf entfernt und lag unmittelbar unterhalb


der Drachenklaue, der Heimat der Drachen. Niemand betrat leichtfertig


und unbefugt Land, über das die Schatten der Drachen zogen.




Die Frau betrachtete sie, bis sich Isabeau unter dem intensiven Blick


unbehaglich fühlte. Sie hatte helle Haut, schwarze Haare und grüne


Augen, trug ein braunes Gewand und ein Wollplaid um Schultern und


Brust gelegt. Ihr Haar war lang und sehr unordentlich. Es floss ihr


über die Schultern und reichte ebenfalls bis zum Boden, hier und da


mit Lederbändern gebunden.




»Das is` also dein kleines Mädchen«, sagte die Frau. Sie sprach mit


deutlichem Akzent, gedehnt und sehr volltönend. »Welch eine Vogelscheuche!«




Isabeau wurde sich augenblicklich ihrer fleckigen Kniehose, der Zweige


und Blätter in ihrem verfilzten Haar und ihrer schmutzigen Fingernägel


bewusst. Sie blickte finster drein. »Ich hab den ganzen Tag draußen


nach Kräutern gesucht. Das ist eine schweißtreibende und schmutzige


Arbeit!«




»Das ist wohl wahr«, sagte die Frau ruhig. »Komm her. Ich möcht dich


ansehen.«




Isabeau regte sich nicht, sondern blickte die Fremde nur misstrauisch


an. Meghan erhob sich steif und zündete mit dem Finger die Kerzen


auf dem Kaminsims und dem Tisch an. Warmes Licht flackerte auf, und


kurz darauf trat Isabeau widerwillig näher.




»Komm, setz dich her, Kind«, sagte die Frau, und Isabeau kniete sich


zu ihren Füßen auf den Boden, noch immer ein wenig finster dreinblickend,


aber durch die ruhige Autorität in der Stimme der seltsamen Frau wie


unter Zwang.




Zunächst hatte Isabeau wegen des schwarzen Haars und des glatten Gesichts


angenommen, die Frau sei jung. Jetzt war sie sich dessen nicht mehr


so sicher. Obwohl nur wenige Linien die helle Haut durchzogen, war


in ihrem Blick eine unleugbare Reife, und unter ihren Augen lagen


dunkle Schatten. Sie war umgeben von einem Hauch der Müdigkeit, verursacht


durch die langen Wege, die sie bereist hatte, und die langen Jahre,


die sie erduldet hatte. Es war schwer, den Blick unter diesen ruhigen,


forschenden Augen nicht abzuwenden, aber Isabeau wehrte sich eigensinnig


dagegen.




»Ich bin wirklich froh, dich kennen zu lernen, Isabeau«, sagte die


Frau schließlich. »Mein Name ist Seychella, und ich bin eine alte


Freundin deiner Hüterin. Ich hab eine lange und mühsame Reise auf


mich genommen, um hierher zu gelangen - es waren anstrengende Monate.«




Isabeau fragte sich, warum die Frau eine solche Reise unternehmen sollte,


nur um ihr verborgenes Tal zu besuchen. Auch wenn es wunderschön war,


gab es hier nicht viel mehr als Bäume und Felsen, und sie musste sich


ihren Weg durch tiefe Klammen und Schluchten gesucht haben, welche


die Sithicheberge so undurchdringlich machten. Isabeau erkannte, dass


die erwartete Ankunft Seychellas der Grund für Meghans unerwartete


Abwesenheit während der letzten Wochen gewesen sein musste. Meghan


musste der fremden Hexe entgegengegangen sein und sie durch das Höhlenlabyrinth


geführt haben, das den einzigen Zugang zum Tal darstellte. Die andere


Frau hätte ihren Weg niemals allein hindurchfinden können, denn Meghan


hatte die einzigen Eingänge sorgfältig verborgen. Warum war Seychella


also hier? Man unternahm keine solch lange und schwierige Reise, nur


um einen Höflichkeitsbesuch abzustatten.




Isabeaus Interesse war geweckt, denn sie hatte in wenigen Tagen Geburtstag.


In der Zeit, als der Hexensabbat eine Macht im Land darstellte, wurden


Akoluthen an ihrem sechzehnten Geburtstag daraufhin geprüft, ob sie


als Lehrlinge in den Hexensabbat aufgenommen werden konnten. Die meisten


Akoluthen verbrachten die vorhergehenden acht Jahre an der Theurgia,


wo sie viele der Grundregeln der Magie erlernten, nachdem sie sich


im Alter von acht Jahren der Ersten Prüfung der Macht unterzogen hatten.


Isabeau wusste, dass Akoluthen ihren ersten Ring, wie auch den Zeremoniendolch


der Hexen, nach der Zweiten Prüfung der Macht erhielten, die ihren


Status als Hexenlehrlinge anzeigten. Acht Jahre später, nachdem sie


die Dritte Prüfung der Macht absolviert hatten, erhielten die Lehrlinge


als vollwertige Mitglieder des Hexensabbats ihren Hexenstab.




Viele Hexen schafften es nur bis zu ihrem Mondsteinring, aber wenn


sie Macht und Ehrgeiz besaßen, konnten sie weiterlernen und versuchen,


ihre Elementringe zu bekommen. Hatte eine Hexe die Erste, Zweite und


Dritte Prüfung in jedem Element bestanden, wurde sie Zauberer oder


Zauberin genannt und durfte den entsprechenden kostbaren Stein an


der linken Hand tragen. Natürlich wagte es heute niemand mehr, Ringe


irgendwelcher Art zu tragen. Dennoch hatte Isabeau oft davon geträumt,


ihren Mondsteinring zu erringen und Lehrling zu werden. Konnte es


sein, dass Meghan Isabeau prüfen wollte, obwohl der Hexensabbat aufgelöst


und Hexerei verfemt war? Isabeaus Herz raste, denn ihr brennender


Ehrgeiz war es, mehr über die Kunst der Magie zu erfahren.




Obwohl sie wusste, dass Hexerei verboten war und dass jedermann, der


bei ihrer Ausübung ertappt wurde, zum Tode oder zum Exil verurteilt


wurde, war Isabeau von dem Thema fasziniert. Sie liebte das Gefühl,


die Eine Macht heraufzubeschwören, die allmähliche Verstärkung aller


Sinne, das Gefühl von Macht und Erhabenheit, das sie dann erfüllte.


Nun, ihre ganze Geschichte war aus magischen Fäden gewoben, auch wenn


niemand mehr zu dieser Geschichte stehen würde. Und obwohl Meghan


nur selten über die Anwendungsmöglichkeiten und Praktiken der Einen


Macht sprach, hatte Isabeau nach und nach die zahllosen Bücher ihrer


Hüterin durchgearbeitet. Die meisten davon enthielten Geschichten


von Zauberwesen, vage Prophezeiungen und einfache Zauber, die jedermann


vollbringen konnte, aber in einem Buch, einem magischen Buch aus alter


Zeit, hatte Isabeau von Hexen gelesen, die das Wetter beherrschen,


sich unsichtbar machen, die Zukunft voraussagen und sogar fliegen


konnten.




»Der Tee«, sagte Meghan, und Isabeau spürte, wie sie errötete, während


sie zum Feuer stolperte, über dessen Flammen die alte tönerne Teekanne


hing. Es sah ihr nicht ähnlich, die Fassung zu verlieren. Sie wunderte


sich darüber, noch während sie das wohlriechende Gebräu in die Becher


goss und die Honigplätzchen aus der Büchse auf dem Kaminsims nahm.




»Mit Honig von unseren eigenen Bienen gemacht«, sagte Meghan.




»Und wo habt ihr die Bienenkörbe versteckt?«, fragte Seychella mit


Belustigung in der Stimme.




»Das ist ein Geheimnis«, erwiderte Meghan lächelnd, trank den Tee und


nickte Isabeau zu, die auf einem Hocker am Feuer kauerte, da die Fremde


ihren üblichen Platz eingenommen hatte. »Warum nimmst du nicht dein


Bad, Isabeau? Du bist schmutzig!«




»Aber ich möchte zuhören«, protestierte Isabeau.




»Du kannst trotzdem zuhören«, beschwichtigte Seychella sie. »Ich werd


erzählen, während du badest.«
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