Fanfic: Die Nacht der Drachenlanze
Schwert hervorzuziehen,
das in Leder und Vlies gebettet war. Doch anstatt die Truhe wie sonst
zu schließen, kniete Sara sich hin und begann, in ihren Sachen herumzustöbern.
Ganz unten in der Truhe ertasteten ihre Finger einen harten Gegenstand,
der in eine alte Decke gewickelt war. Sie hielt inne, ohne das Bündel
loszulassen. Wieder erinnerte sie sich an die Stimme aus ihren Träumen
- beschwörend, trauernd, voller Angst. Sie glaubte zu wissen, was
für eine Stimme das war, aber wie war es möglich, dass sie sie nach
all diesen Jahren vernahm? Und warum jetzt?
»Nein!«, schalt sie sich selbst. »Es war nur ein Traum.« Eilig warf
sie ihre Sachen wieder in die Truhe, um das Bündel nicht sehen zu
müssen.
Sie nahm das Schwert zur Hand und lief damit durch die Hintertür zu
den Bäumen hinter ihrer Hütte. Direkt bei ihrem Haus erhob sich ein
bewaldeter Hügel, Teil eines Bergrings, der das Tal mit dem Dorf schützte.
Sara erklomm den Hügel über einen Pfad, den sie auswendig kannte,
und folgte einem Grat bis zu einer kleinen Schlucht, die sich im Osten
nach unten öffnete.
Dort, zwischen den Felsen und Büschen am Ufer eines steinigen Bachbetts,
zog Sara ihr Schwert aus der Scheide und nahm eine Verteidigungsposition
ein. Schlag um Schlag führte sie mit großer Sorgfalt jede Schwertkampfübung
durch, die sie je gelernt hatte, von Stößen bis Paraden bis hin zu
flachen Hieben und Blockaden. Als sie mit der rechten Hand fertig
war, wiederholte sie jede Übung mit der linken. Diese Übungen hatte
sie bisher jeden Tag durchgehalten, bei Regen wie bei Sonnenschein.
Mitunter flocht sie eigene Variationen ein, führte aber immer die
gesamte Einheit bis zum Ende aus.
Sie hatte mit diesem Training angefangen, um ihre Selbstverteidigungskünste
zu erhalten, und inzwischen war es ihr zur Gewohnheit geworden. Niemand
im Dorf hatte eine Ahnung davon, dass sie so etwas konnte. Niemand
im Dorf wusste, was sie gewesen, wer sie wirklich war.
Sara wollte es so. Wenn durchgesickert wäre, dass im Dorf Connersby
in Solamnia eine ehemalige Ritterin der Takhisis lebte, wären sowohl
die Schwarzen Ritter als auch die Ritter von Solamnia in der gesamten
Gegend ausgeschwärmt, um sie zu finden.
Jedenfalls vor einigen Jahren noch. Doch die alte Welt existierte nicht
mehr, und seit der Zweiten Umwälzung vor erst zwei kurzen Jahren war
eine neue Welt entstanden. In jenem bitteren, brütend heißen Sommer
waren die meisten Ritter des Lichts wie der Finsternis in einem brutalen
Krieg gegen Chaos, den Vater von Allem und Nichts, umgekommen. Chaos
war besiegt worden, doch bei seinem Rückzug hatte er die anderen Götter
dazu gezwungen, ihn zu begleiten. Damit war Krynn seiner Götter, ihrer
Magie und der meisten der besten Krieger von Ansalon beraubt. Von
beiden Orden waren nur versprengte Überreste geblieben. Sara bezweifelte,
dass sie ein großes Interesse daran hatten, alte Deserteure zu suchen,
die des Verrats bezichtigt wurden.
Dennoch bewahrte Sara ihr Geheimnis. Das Leben, das sie bis vor sieben
Jahren geführt hatte, war vorbei. Es hatte ihr wenig Freude gemacht.
Nur die Erinnerung an ihren Adoptivsohn, Stahl Feuerklinge, hielt
jenes Leben noch in ihr wach.
Sara erhob das Gesicht zum blassen Himmel und ließ ihre Gedanken zu
dem Tag zurückschweifen, als ihr die schwarzhaarige Kitiara Uth-Matar
ihr Kind in die Arme gedrückt hatte und auf Nimmerwiedersehen davongeritten
war. Von diesem Moment an hatte Sara Dunstan sich als Stahls Mutter
betrachtet und ihr ganzes Leben seinem Wohlergehen gewidmet.
Er war es, der sie zu den Schwarzen Rittern geführt hatte. Sie hatte
gehofft, ihn von diesem Weg abbringen zu können. Um ihn von seiner
Göttin, Takhisis, wegzulocken, hatte sie den Ehrenkodex der Ritter
verraten und ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt. Sie hätte alles
für ihn geopfert - im Gegensatz zu seiner richtigen Mutter.
Selbst jetzt, zwei Jahre nach Stahls Tod in der letzten Schlacht gegen
Chaos, betrauerte Sara ihn so schmerzlich wie eine echte Mutter ihren
leiblichen Sohn. Ihr einziger Trost bestand darin, dass Stahl als
Held gestorben war, denn er hatte sein Leben für die Welt gegeben.
Wenn Sara auf ihr eigenes Leben zurückblickte, bereute sie nicht einen
Moment, den sie mit oder für Stahl verbracht hatte.
Jetzt wischte sie sich mit dem Saum ihrer Tunika übers Gesicht und
ließ sich auf einen Felsen nieder. Seufzend betrachtete sie die Waffe
in ihren Händen. Immerhin hielt das Training sie trotz ihrer einundfünfzig
Jahre stark und jung. Dennoch stellte sie mit bedauerndem Lächeln
fest, dass das Alter seinen Tribut forderte. Ihre Knie schmerzten,
und ihre Reflexe wurden langsamer. Ihre Augen waren weniger scharf
als früher, und die ehedem hellbraunen, jedoch vorzeitig ergrauten
Haare hingen jetzt in einem silbernen Zopf über ihren Rücken. Auch
ihre Gedanken verloren sich zu häufig in Erinnerungen.
Eines Tages würde sie dieses Training, die Geburtshilfe bei Pferden,
das Schneiden der Kuhklauen und all die schwierigen, harten Arbeiten,
die sie durchführte, Jüngeren und Stärkeren überlassen müssen. Eines
Tages. Bis dahin gab es noch viel zu tun und nicht genug Zeit dafür.
Auch dieser Spätwintertag verstrich bereits.
Nach der kleinen Pause steckte Sara ihr Schwert wieder ein und eilte
nach Hause, wo der Webstuhl und ihre Pflichten auf sie warteten. Die
Träume und Erinnerungen verdrängte sie vorläufig. Schließlich waren
das doch nur die Gespenster der Vergangenheit. Bei Tageslicht besehen,
gab es weit näher liegende Dinge zu bedenken.
Doch wie jeder Tag endete auch dieser mit der Nacht, und mit ihr kam
Saras Traum zurück. Es war ein merkwürdiger Traum, denn er brachte
weder Bilder noch Licht noch Farbe. Es gab nichts als undurchdringliche
Finsternis, den Schmerz in Körper und Seele und diese Stimme, die
ihr Leid jedem klagte, der sie hören konnte.
Als Sara erwachte, war ihr Kissen tränennass und ihr Rücken steif und
verspannt. Den Rest der Nacht lag sie wach und starrte zur Decke hoch.
Am nächsten Tag fühlte sie sich wie gerädert.
»Das geht vorbei«, ermahnte sie sich. »Es ist nur ein Traum. Ich brauche
mir keine Gedanken darüber zu machen.«
Aber die Stimme verschwand nicht. Noch drei weitere Nächte gellten
die Klagerufe durch ihren Schlaf, bis Sara schreiend erwachte: »Lass
mich in Ruhe!«
Am vierten Tag war Sara so erschöpft, dass sie am Webstuhl einschlief.
Wieder träumte sie von der Dunkelheit und von der Stimme. Diesmal
veränderte sich der Traum. Ein mattes Licht durchdrang die Düsternis
und zeigte Steinwände und einen sandbedeckten Boden. Die Stimme jammerte
immer noch vor sich hin wie ein unglückliches Kind. Dabei hob und
senkte sie sich, als wäre ihr Besitzer im Halbschlaf. Dann schob sich
etwas in Saras Blickfeld und bestätigte ihren Verdacht. Vor ihr im
Sand streckten sich zwei starke, klauenbewehrte Vorderbeine aus. Das
schwache Licht ließ verblichene, blaue Schuppen aufleuchten.
Der Drache hob den Kopf und blickte sich um, als könne er ihre Gegenwart
spüren. Durch seine Augen nahm Sara seinen langen, schweren Körper
wahr. Selbst im Schlaf japste sie nach Luft. Der Drache war ausgemergelt,
seine Farbe stumpf und matt. Das rechte Vorderbein schien in einem
schiefen Winkel abzustehen, und über seine Schultern zog sich eine
lange, eiternde Wunde. Wimmernd ließ er den Kopf wieder in den Sand
sinken.
Sara seufzte resigniert. »Also gut«, sagte sie laut. »Ich komme.« Urplötzlich
war der Traum vorüber.
Vielleicht hatte der Drache nur ihr Einverständnis gebraucht, denn
nachdem Sara an jenem Abend ihre Sachen für den Aufbruch gepackt und
die Hütte aufgeräumt hatte, verbrachte sie eine traumlose Nacht.