Fanfic: Der magische Spiegel
Chapter: Der magische Spiegel
Der magische Spiegel
Kapitel 1
Ein für die Jahreszeit ungewöhnlich später Schwall kalten Windes zerrte
an den Zeltwänden und blies eisige Bergluft durch die fest verschnürten
Klappen. Alarista hockte im Zelt auf dem Boden, blickte von einem
Sehglas ins nächste und rang die in ihr aufsteigende Panik nieder.
In zwei Gläsern hatte sie Zwillingsbilder vom Inneren einer Kutsche,
die durch die engen Hintergassen Calimekkas holperte - Kait und Ry,
die mit dem Spiegel der Seelen vor den Drachen flohen. Trotz des stetigen
Geklappers der Pferdehufe konnte sie Kait, Ry und Ian hören, wie sie
einander berichteten, was ihnen seit ihrer letzten Begegnung widerfahren
war.
In einem anderen Glas konnte Alarista die Überreste eines komplizierten
Geräts aus Kristallspiralen und silbernen Schaltern sehen, das völlig
zerstört auf einem Arbeitstisch lag. Die beiden Stimmen, die leise
aus diesem Sehglas zu hören waren, klangen schrill vor Angst.
»… genauso habe ich ihn gefunden. Shamenar war hier, in diesem Raum,
und hat daran gearbeitet, und jetzt ist er auch weg. Es wird mindestens
einen Monat dauern, um ihn zu reparieren, selbst wenn wir Shamenar
finden können …«
»Du denkst, sie haben ihn?«
»Ich möchte lieber gar nicht denken …«
Ein anderes Glas, ein anderes Bild. Mit den Augen eines Menschen gesehen,
der durch einen langen, nur von einer Kältelampe beleuchteten Korridor
läuft: Schatten, die zurückweichen und dann wieder vorschnellen, fantastische
Gestalten, die die Wände hinaufkriechen und sich in ganz gewöhnliche,
irdische Dinge verwandeln. Im Augenblick waren die angestrengten Atemstöße
des Läufers das einzige Geräusch aus diesem Glas. Wer immer er war,
er war bereits an vier Abzweigungen des Korridors vorbeigerannt und
fragte jetzt den ersten Wachposten, den er erreichte, ob jemand mit
einer schweren Last an ihm vorbeigekommen sei.
Ein Dutzend weitere Gläser zeigten Gruppen von Menschen, die im Stehen
oder im Sitzen miteinander redeten, wieder andere gaben den Blick
auf Springbrunnen oder Gärten frei, auf Bücher oder Papiere, die langsam
durchgeblättert wurden. Mehrere Gläser waren vorübergehend dunkel
geworden - ihre Eigentümer schliefen, aber vielleicht waren sie auch
tot. Auf einer Seite des Zeltes standen in Reih und Glied noch hundert
weitere Gläser, die niemals aktiviert wurden. Jetzt, da Kait und Ry
fort waren, würde sich die Notwendigkeit dazu wahrscheinlich auch
niemals ergeben, aber Alarista behielt die Sehgläser dennoch in Reichweite,
weil Doghall und Hasmal es so angeordnet hatten. Mehr als einmal war
in den vergangenen Tagen ein Glas plötzlich lebendig geworden, und
Doghall oder Hasmal hatten etwas Nützliches erfahren. Solange nicht
alle Hoffnung verloren war, würde Alarista sich an ihre Befehle halten,
komme, was da wolle.
Hasmal war ihrer Schätzung nach seit einer halben Stunde fort - mitsamt
seinem Körper aus dem Zelt weggerissen von einer unvorstellbaren Drachenmagie,
die ihn an einen unbekannten Ort transportiert hatte. Bisher hatte
ihr keins der Sehgläser das Bild enthüllt, nach dem sie suchte - einen
Blick auf Hasmal. Alarista flüsterte ein endloses Gebet an Vodor Imrish,
dass er ihr, wenn er immer noch zuhörte und wenn er sie immer noch
liebte, ihren Hasmal zurückgeben möge. Wenn sie ihn sehen könnte,
nur einen Augenblick lang, nur um zu wissen, dass er noch am Leben
war, würde sie endlich wieder atmen können.
Die Zeltklappen wurden auseinander gezogen, und Yanth schlüpfte zwischen
ihnen hindurch. Er ließ sich neben Jaim auf den Zeltboden fallen,
der schweigend hinter Alarista gesessen hatte und ihr einfach durch
seine Anwesenheit zur Seite stand. »Die Heilerin ist schon unterwegs«,
sagte Yanth zu Jaim. »Gibt es irgendein Zeichen von Hasmal?«
Jaim antwortete mit leiser Stimme. »Sie hat sich nicht bewegt, solange
du fort warst, daher nehme ich an, die Antwort lautet nein.«
Alarista nahm ihre ganze Energie zusammen, um zu sprechen, um sie wissen
zu lassen, dass sie sie hören konnte und dass sie die Welt um sich
herum immer noch wahrnahm, wenn auch nur am Rande. »Bisher kein Zeichen.«
»Das tut mir Leid. Kann ich irgendetwas tun, um zu helfen?«
»Bleib in der Nähe«, sagte sie. »Wenn sich etwas verändert, werde ich
euch vielleicht beide brauchen.«
Einen Augenblick später trat die Heilerin durch die Zeltklappe; ihre
Ausrüstung zog sie hinter sich her. Dann kniete sie sich neben Doghall
auf den Boden und breitete ihr Handwerkszeug aus. Die Frau gehörte
zu Doghalls Leuten - sie war ein Teil der Armee, die er vor einigen
Monaten aufgebaut hatte. Sie war ein Falke, bereits betagt und mit
einer guten Ausbildung in heilender Magie, und in Anbetracht der Umstände
wirkte sie außerordentlich gelassen. Wenn Doghall überhaupt eine Chance
hatte, sich zu erholen, war er bei ihr in besten Händen.
An den Zeltwänden knieten mehrere Wachposten mit gezücktem Schwert;
sie hatten weder gelacht noch Witze gerissen, seit Hasmal mit einem
Schrei und einem Aufblitzen von Licht verschwunden war. Angespannt
und voller Angst beobachteten sie das Geschehen. Sie hatten die Aufgabe
gehabt, Doghall oder Hasmal zu töten, falls eine Drachenseele zwar
angezogen, aber nicht erfolgreich in einen der winzigen Seelenspiegel
eingesperrt werden konnte und so von einem der beiden Männer Besitz
ergriff. Jetzt lag Doghall teilnahmslos auf einer der Matten, Hasmal
war verschwunden, und Alarista hatte den Männern bereits erklärt,
dass sie weder über die Kraft noch über die magischen Fähigkeiten
verfügte, die es Hasmal und Doghall ermöglicht hatten, so viele Drachenseelen
einzufangen. Die Männer wussten, dass sie Alarista wahrscheinlich
würden töten müssen, falls diese versuchen sollte, es mit einem Drachen
aufzunehmen.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter, und sie zuckte zusammen. »Sieh
nur!«, flüsterte Yanth und zeigte auf eins der Sehgläser, das bis
zu diesem Augenblick dunkel gewesen war.
Alarista wandte sich dem plötzlich aufflackernden Licht zu, dem Bild,
das sich schnell wieder auflöste, und sie stöhnte. Hasmals Gesicht
war mit einem Mal ganz nah an ihrem eigenen. Es hatte Schnitte quer
über beide Wangen und über beiden Augenlidern, und die Wunden waren
blutverkrustet. Seine Haut, die immer blass war, hatte die Farbe von
ausgebleichten Knochen angenommen. Alarista konnte die Schweißperlen
zählen, die ihm über die Stirn rannen und auf seiner Oberlippe glitzerten.
»Wir haben eine Möglichkeit gefunden, unsere eigenen Seelenspiegel
herzustellen«, flüsterte er.
Das Bild flackerte und bewegte sich zu einem langen, blutigen Messer
hinunter und zu einem Daumen, der die Schneide erprobte. »Ach wirklich?
Erzähl mir mehr davon.«
»Ich … ich erzähle dir alles, was du wissen willst. Alles.«
Sie hörte ein leises Kichern, bei dem sich ihre Nackenhaare aufstellten
und ihr Magen zusammenkrampfte. »Ich weiß, dass du das tun wirst.
Erzähl mir zuerst, wie ihr den Spiegel gemacht habt. Zu der Frage,
wie ihr ihn benutzt habt, werden wir bald genug kommen.«
Alarista umklammerte Yanths Hand. »Er foltert ihn.«
»Ich weiß.«
»Oh, ihr Götter! O Hasmal! Wir müssen ihm helfen.«
»Ich weiß. Aber wie?«
Alarista konnte den Blick nicht von dem Albtraum vor ihr abwenden.
»Ich muss die Seele des Drachen zu mir herüberziehen. Ich muss sie
gefangen nehmen.«
»Dazu warst du bisher nicht in der Lage«, entgegnete Jaim leise.
»Diesmal werde ich dazu in der Lage sein müssen.«
»Und wenn du versagst, verlieren wir Hasmal und dich. Wir brauchen
dich noch.«
Sie drehte sich zu Jaim um und fauchte ihn an. »Ich kann nicht hier
herumsitzen und zusehen, wie er stirbt!«
Jaim parierte sofort. »Ich wollte auch nicht vorschlagen, dass du zusiehst,
wie er stirbt.«
»Was dann?«
Jaim sah zu der Heilerin hinüber, die sich mit dem bewusstlosen Doghall
beschäftigte. »Doghall könnte den Drachen besiegen, wenn er über seine
ganze Kraft verfügte.«
»Genauso wie ich es könnte, wenn ich seine Fähigkeiten besäße.«
»Doghall sagte, du seiest eine ebenso gute Zauberin wie er, nur auf
anderen Gebieten. Könntest du deine Magie benutzen, um der Heilerin
zu helfen, ihn wieder auf die Beine zu bringen?«
Alarista starrte Jaim an. Sie war keine Heilerin, außerdem würde es
ihr nichts nutzen, Doghall nur zu heilen. Selbst wenn er geheilt war,
würde er kraftlos und außerstande sein, die Seele eines ausgeruhten
und mächtigen Drachen zu bezwingen. Aber während die Heilerin ihn
wieder gesund machen konnte, konnte sie ihm Kraft geben. Ihre Kraft.
Der Preis, den sie dafür zahlen würde …
Sie zog es vor, nicht über diesen Preis nachzudenken.
Sie wandte sich an die Heilerin: »Namele, bist du bald