Fanfic: Die Vergessenen Welten

Jarlaxle. Hüte dich.




Drizzt Do`Urden




Als er in sich schaute




Dwahvel Tiggerwillies schlich auf Zehenspitzen in den kleinen, schwach


beleuchteten Raum im hinteren Teil ihres Lokals, des »Kupfernen Einsatzes«.


Dwahvel, diese äußerst fähige Halblingsfrau - gleichermaßen gut im


Gebrauch ihres Verstandes wie ihres Dolches, besser noch mit ihrer


spitzen Zunge - war es nicht gewohnt, hier so vorsichtig herumzuschleichen,


obwohl es sich um eines der sichersten Häuser von Calimhafen handelte.


Aber immerhin ging es hier um Artemis Entreri, und kein Ort der Welt


konnte wirklich sicher genannt werden, wenn der tödliche Meuchelmörder


in irgendeiner Weise präsent war.




Als sie eintrat, schritt er im Zimmer auf und ab, ohne erkennbar Notiz


von ihrer Ankunft zu nehmen. Dwahvel musterte ihn neugierig. Sie wusste,


dass Entreri in letzter Zeit höchst angespannt war, und sie war eine


der wenigen außerhalb des Hauses Basadoni, die den Grund für diese


Anspannung kannten. Die Dunkelelfen waren gekommen und hatten Calimhafens


Straßen unterwandert, und Entreri diente als Aushängeschild für ihre


Operationen. Alle Befürchtungen Dwahvels hinsichtlich der Grausamkeit


der Drow wurden durch einen einzigen Blick auf Entreri zur Gewissheit.


Niemals von nervösem Typ - Dwahvel war sich nicht einmal sicher, ob


er das jetzt war - war er nie ein Mann gewesen, von dem die Halblingsfrau


erwartet hätte, dass er mit sich selbst im Unreinen war.




Noch seltsamer berührte sie die Tatsache, dass Entreri sie ins Vertrauen


gezogen hatte. Das entsprach einfach nicht seiner Art. Dennoch befürchtete


Dwahvel keine Falle. So sehr es sie auch überraschte: Hier war alles


so, wie es schien. Entreri redete mehr mit sich selbst als mit ihr.


Es war eine Art, seine Gedanken zu ordnen, und aus einem Grund, den


Dwahvel noch nicht verstand, ließ er sie dabei zuhören.




Sie fühlte sich dadurch aufs Höchste geehrt, erkannte aber zugleich


auch die in dem Kompliment verborgene Gefahr. Mit diesem beunruhigenden


Gedanken im Kopf ließ sich die Gildenmeisterin leise in einem Sessel


nieder, hörte genau zu, da sie sich Hinweise und Gründe erhoffte.


Die erste und überraschendste Erklärung erhielt sie, als sie zu einem


Stuhl an der Rückwand des Zimmers hinüberschaute. Auf ihm stand eine


halb leere Flasche Branntwein von den Mondscheininseln.




»Ich sehe sie an den Ecken einer jeden Straße im Bauch dieser verfluchten


Stadt«, sagte Entreri. »Herumstolzierende Gockel, die ihre Narben


und Waffen wie Ehrenzeichen tragen, Männer und Frauen, die so sehr


von ihrem Ruf besessen sind, dass sie völlig aus den Augen verloren


haben, was sie eigentlich erreichen wollten. Es geht ihnen nur noch


um Status und Ehrbezeugungen.«




Obwohl er keineswegs lallte, so stand für Dwahvel dennoch ohne Zweifel


fest, dass Entreri tatsächlich dem Branntwein zugesprochen hatte.




»Seit wann schert sich Artemis Entreri um irgendwelche Gossenrüpel?«,


fragte sie.




Entreri brach sein rastloses Umherwandern ab und schaute sie mit leerem


Blick an. »Ich sehe sie und beobachte sie genau, weil ich sehr gut


weiß, dass mein Ruf mir vorauseilt. Dieses Rufes wegen würde mir so


manch einer auf der Straße liebend gern einen Dolch ins Herz stoßen«,


erwiderte der Meuchelmörder und setzte sich wieder in Bewegung. »Dadurch


würde sich der Mörder einen großartigen Ruf erwerben. Sie wissen,


dass ich älter geworden bin, und glauben, dass ich damit auch langsamer


wurde - und diese Überlegung ist tatsächlich nicht unbegründet. Ich


kann mich nicht mehr so schnell bewegen wie vor einem Jahrzehnt.«




Dwahvels Augen verengten sich bei diesem überraschenden Eingeständnis.




»Aber während der Körper altert und die Schnelligkeit nachlässt, wird


der Verstand schärfer«, fuhr Entreri fort. »Auch ich bin auf Reputation


bedacht, aber nicht mehr in gleichem Maße wie früher. Es war mein


Lebensziel, der absolut Beste in dem zu werden, was ich tue, alle


Feinde im Kampf und mit dem Verstand zu übertreffen. Mich verlangte


danach, der perfekte Krieger zu werden, und es bedurfte eines Dunkelelfs,


den ich verachte, um mir die Augen zu öffnen, sodass ich erkannte,


wie falsch das war. Meine unfreiwillige Reise nach Menzoberranzan


als ›Gast‹ von Jarlaxle hat meinem Bestreben nach Perfektion einen


demütigenden Dämpfer versetzt und mir die Sinnlosigkeit einer Welt


gezeigt, die erfüllt ist von dem, was ich anstrebte. In Menzoberranzan


sah ich an jeder Ecke Spiegelbilder meiner selbst. Krieger, die für


alles um sie herum abgestumpft waren, dass sie den Weg dorthin überhaupt


nicht mehr genießen konnten.«




»Es sind Drow«, warf Dwahvel ein. »Wir können ihre wahren Antriebe


nicht ergründen.«




»Ihre Stadt ist ein wunderschöner Ort, meine kleine Freundin«, erwiderte


Entreri, »und machtvoll über alle Grenzen deiner Vorstellungskraft.


Und doch ist Menzoberranzan zugleich öde und leer, und es gibt dort


keine Leidenschaft außer Hass. Ich habe diese Stadt der zwanzigtausend


Meuchelmörder in der Tat als ein anderer verlassen als jemand, der


die Grundfesten seiner Existenz in Frage stellt. Was ist schließlich


der Sinn des Ganzen?«




Dwahvel verschränkte die kleinen, dicken Hände und hob sie an die Lippen,


während sie den Mann intensiv beobachtete. Wollte Entreri seinen Rücktritt


verkünden?, fragte sie sich. Entsagte er dem Leben, das er geführt


hatte, den Höhen, die er erklommen hatte? Sie stieß einen leisen Seufzer


aus, schüttelte den Kopf und sagte: »Diese Frage müssen wir alle für


uns selbst beantworten, nicht wahr? Der Sinn mag Gold sein oder Respekt


oder Besitz oder Macht …«




»In der Tat«, sagte er kalt. »Ich habe heute ein besseres Verständnis


dessen, wer ich bin und welche der Herausforderungen, die vor mir


liegen, wirklich von Bedeutung sind. Ich weiß noch nicht, wohin mein


Weg mich führen wird und welche Aufgaben noch übrig bleiben, aber


ich begreife jetzt, dass das Wichtige daran ist, den Weg selbst zu


genießen.




Ist es mir wichtig, dass mein Ruf unbeschadet bleibt?«, fragte Entreri


plötzlich, gerade als Dwahvel ihn fragen wollte, ob er irgendeine


Ahnung davon hatte, wohin sein Weg ihn führen würde - eine wichtige


Information, wenn man die Macht der Basadoni-Gilde bedachte. »Möchte


ich weiterhin als leuchtendes Beispiel für den Erfolg angesehen werden,


den ein Meuchelmörder in Calimhafen erreichen kann?




Ich sage ja zu beidem, aber nicht aus den gleichen Gründen, die den


eitlen Gockeln an den Straßenecken wichtig erscheinen, nicht aus den


gleichen Gründen, die viele von ihnen zu dem Versuch bewegen werden,


mich zu besiegen, nur um als Leiche in der Gosse zu enden. Nein, ich


pflege meinen Ruf, weil er mir bei dem nützt, was ich tun will. Berühmtheit


ist mir wichtig, aber nur deshalb, weil meine Feinde mich deswegen


mehr fürchten und weil diese Furcht ihr vernünftiges Denken beeinträchtigt,


sodass sie unvorsichtig werden. Sie haben Angst, selbst während sie


mich attackieren, doch statt ihnen einen gesunden Respekt einzuflößen,


lähmt sie sie fast und lässt sie ständig jede ihrer Handlungen anzweifeln.


Ich kann diese Angst gegen sie verwenden. Mit einer einfachen Täuschung


oder einer Finte kann ich bewirken, dass sie zögern und einen Fehler


begehen. Weil ich Verwundbarkeit vortäuschen und gegen die Unvorsichtigen


verwenden kann, werden die Vorsichtigen dann, wenn ich wirklich verwundbar


bin, nicht so vehement zuschlagen.«




Er hielt inne und nickte. Dwahvel erkannte, dass seine Gedanken sich


tatsächlich allmählich ordneten. »Das ist wirklich eine beneidenswerte


Position«, warf sie ein.




»Sollen die Narren doch kommen, einer nach dem anderen, eine endlose


Schlange begieriger Meuchelmörder«, schloss Entreri und nickte erneut.


»Mit jedem Getöteten werde ich klüger, und meine wachsende Klugheit


macht mich stärker.«




Er schlug sich seinen seltsamen kleinen, schmalkrempigen schwarzen


Hut gegen den Schenkel und wirbelte ihn mit einem Zucken des Handgelenks


den Arm hinauf. Die Kopfbedeckung rollte über die Schulter nach oben,


bis sie schließlich auf seinem frisch gestutzten Haar saß. Erst jetzt


bemerkte Dwahvel, dass der Mann sich auch den Bart abgenommen hatte.


Übrig geblieben waren nur ein dünner Schnurrbart und ein schmaler


Streifen unterhalb der Unterlippe, der zu seinem Kinn hinunterführte


und nach beiden Seiten auslief.
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