Fanfic: Die vergessenen Welten 3
Chapter: Die vergessenen Welten 3
Die vergessenen Welten 3
Oft grübele ich über die Unruhe nach, die mich überfällt, wenn meine
Klingen in der Scheide stecken, wenn sich die Welt um mich herum in
Frieden zu befinden scheint. Dies ist das angebliche Ideal, für das
ich kämpfe, die Ruhe, auf deren Rückkehr wir im Krieg alle hoffen,
und doch habe ich in diesen friedlichen Zeiten - und es hat sie in
den sieben Jahrzehnten meines Lebens nur selten gegeben - nicht das
Gefühl, die Perfektion erreicht zu haben. Es kommt mir in solchen
Zeiten eher so vor, als würde etwas in meinem Leben fehlen.
Es scheint ein so unpassender Gedanke zu sein, aber ich habe erkennen
müssen, dass ich ein Krieger bin, ein Wesen, das handeln muss. In
Zeiten, in denen kein Bedarf zum Handeln besteht, fühle ich mich nicht
wohl. Nicht im Mindesten.
Wenn mein Weg nicht voller Abenteuer ist, wenn es keine Ungeheuer zu
besiegen gibt und keine Berge zu erklimmen, dann packt mich die Langeweile.
Ich habe gelernt, diese Tatsache meines Lebens zu akzeptieren, zu
akzeptieren, wer ich bin, und so kann ich in diesen seltenen, leeren
Zeiten einen Weg finden, die Langeweile zu bekämpfen. Ich kann einen
Berggipfel finden, der höher ist als der letzte, den ich bezwungen
habe.
Viele dieser Symptome erkenne ich jetzt in Wulfgar wieder, der aus
dem Grabe zu uns zurückgekehrt ist, aus der wirbelnden Dunkelheit,
die Errtus Ecke des Abgrunds war. Doch ich fürchte, dass Wulfgars
Zustand bereits jenseits einfacher Langeweile liegt und in das Reich
der Apathie übergegangen ist. Auch Wulfgar war eine Kreatur der Tat,
doch dies scheint jetzt kein Heilmittel für seine Lethargie und Apathie
zu sein. Sein eigenes Volk ruft nach ihm und fordert ihn auf zu handeln.
Sie haben ihn gebeten, die Führerschaft über die Stämme anzunehmen.
Selbst der sture Berktgaar, der dafür die Herrschaft aufgeben müsste,
die er so sehr begehrt, unterstützt Wulfgar. Er und alle anderen wissen,
dass in diesen kargen Zeiten Wulfgar, Sohn von Beornegar, die nomadischen
Barbaren vom Eiswindtal mehr als jeder andere zu neuen Erfolgen führen
kann.
Wulfgar folgt ihrem Ruf nicht. Es ist weder Bescheidenheit noch Erschöpfung,
die ihn zurückhält, wie ich erkenne. Und es ist auch nicht die Furcht,
dass er diese Position nicht ausfüllen oder den Erwartungen jener
nicht genügen könnte, die ihn bitten. Jedes dieser Probleme könnte
überwunden werden, bei jedem davon würden Wulfgars Freunde, darunter
auch ich, ihm helfen. Doch nein, es ist keines dieser lösbaren Probleme.
Es ist einfach nur, dass es ihn nicht kümmert.
Könnte es sein, dass seine eigene Pein in den Klauen von Errtu so groß
und überwältigend war, dass er seine Fähigkeit verloren hat, den Schmerz
anderer nachzuempfinden? Hat er zu viel Grauen gesehen, zu viel Leid,
um ihre Schreie noch hören zu können?
Dies ist es, was ich mehr als alles andere fürchte, denn es ist ein
Verlust, für den es keine allgemeingültige Behandlung gibt. Doch um
ehrlich zu sein, sehe ich genau dies in Wulfgars Zügen eingemeißelt:
einen Zustand der Selbstversunkenheit, in der zu viele Erinnerungen
an das durchlittene Grauen ihm den Blick trüben. Vielleicht bemerkt
er die Schmerzen anderer nicht einmal. Oder vielleicht tut er sie,
falls er sie doch wahrnimmt, als unbedeutend ab, verglichen mit den
ungeheuerlichen Torturen, die er selbst in den sechs Jahren seiner
Gefangenschaft bei Errtu durchlitten hat. Der Verlust an Mitgefühl
mag sehr wohl die langwierigste und tiefste Narbe von allen sein,
die lautlose Klinge eines unsichtbaren Feindes, die nach unseren Herzen
sticht und uns mehr raubt als nur unsere Stärke. Sie stiehlt unseren
Willen, denn was sind wir ohne Mitgefühl? Welche Freude können wir
in unserem Leben finden, wenn wir nicht die Freuden und Schmerzen
jener begreifen, die uns umgeben, wenn wir nicht an einer Gemeinschaft
teilhaben können? Ich erinnere mich an meine Jahre im Unterreich,
nachdem ich aus Menzoberranzan geflohen war. Alleine, mit Ausnahme
der gelegentlichen Besuche von Guenhwyvar, überlebte ich jene langen
Jahre mit Hilfe meiner Vorstellungskraft.
Ich bin mir nicht sicher, ob Wulfgar selbst noch über diese Veranlagung
verfügt, denn Vorstellungskraft setzt Selbstbeobachtung voraus, die
Fähigkeit, mit den Gedanken ins eigene Innere zu schauen, und ich
fürchte, dass mein Freund jedesmal, wenn er in sich hineinblickt,
nur die Quälgeister Errtus sieht, den Morast und das Grauen des Abgrunds.
Er ist umgeben von Freunden, die ihn lieben und von ganzem Herzen versuchen
werden, ihm dabei zu helfen, aus Errtus Gefühls-Kerker herauszuklettern.
Vielleicht wird Catti-brie, die Frau, die er einst so innig liebte
(und was er möglicherweise noch immer tut), sich als entscheidend
für seine Erholung erweisen. Es schmerzt mich, die beiden zusammen
zu sehen, das gebe ich zu. Sie behandelt Wulfgar mit so viel Zärtlichkeit
und Mitleid, aber ich weiß, dass er ihre sanfte Berührung nicht spürt.
Besser wäre es, sie schlüge ihm ins Gesicht, schaute ihm ernst ins
Gesicht und hielte ihm seine Lethargie vor Augen. Ich weiß dies, und
doch kann ich ihr nicht den Rat geben, ihn so zu behandeln, denn ihre
Beziehung zueinander ist um so vieles komplizierter. Ich habe nichts
als Wulfgars Bestes im Sinn, und doch, würde ich Catti-brie zu einer
Handlungsweise raten, die nicht mitfühlend erscheint, dann könnte,
würde es so sein - zumindest für Wulfgar in seinem gegenwärtigen Zustand
-, dass man es als die Einmischung eines eifersüchtigen Mitbewerbers
auslegte.
Doch so ist es nicht. Denn obgleich ich Catti-bries wahre Gefühle diesem
Mann gegenüber nicht kenne, der einst ihr Verlobter war - denn in
letzter Zeit verbirgt sie ihre Gefühle sehr stark -, so erkenne ich
doch, dass Wulfgar im Augenblick nicht fähig ist zu lieben.
Nicht fähig zu lieben ... gibt es traurigere Worte, um einen Mann zu
beschreiben? Ich glaube nicht, und ich wünschte, ich könnte Wulfgars
Geisteszustand anders bewerten. Doch Liebe, ehrliche Liebe, erfordert
Mitgefühl. Sie ist ein Teilen - von Freude, von Schmerz, von Lachen,
von Tränen. Ehrliche Liebe macht aus der eigenen Seele eine Widerspiegelung
der Stimmungen des Partners. Und so, wie ein Raum größer erscheint,
wenn er mit Spiegeln behängt ist, so vervielfacht sich die Freude.
Und so, wie einzelne Gegenstände in einem Spiegelraum weniger hervorstechend
zu sein scheinen, so verringert und verblasst auch Schmerz durch dieses
Teilen.
Dies ist die Schönheit der Liebe, ob sie eine der Leidenschaft oder
der Freundschaft ist. Ein Teilen, das die Freunde vervielfacht und
den Schmerz verringert. Wulfgar ist jetzt von Freunden umgeben, die
alle zu einem solchen Teilen bereit sind, so wie es früher zwischen
uns war. Doch er kann uns nicht teilhaben lassen, er kann die Panzer
nicht lösen, mit denen er sich aus schierer Notwendigkeit umgeben
hat, als er von Errtu und seinesgleichen umgeben war.
Er hat sein Mitgefühl verloren. Ich kann nur beten, dass er es wiederfinden
wird, dass die Zeit ihm erlaubt, sein Herz und seine Seele wieder
jenen zu öffnen, die es verdienen, denn ohne Mitgefühl wird er keinen
Lebensinhalt finden können. Ohne ein Ziel wird er keine Befriedigung
erfahren. Ohne Befriedigung wird er keine Zufriedenheit und damit
auch keine Freude erleben.
Und wir, wir alle, werden keine Möglichkeit besitzen, ihm zu helfen.
Drizzt Do`Urden
Ein Fremder in der Heimat
Artemis Entreri stand auf einem felsigen Hügel, der über der ausgedehnten,
staubigen Stadt aufragte, und versuchte, die Myriaden von Gefühlen
zu ordnen, die ihn überfluteten. Er hob die Hand, um sich den heranwehenden
Staub und Sand von den Lippen und aus den Haaren seines neuen Spitzbartes
zu wischen. Erst als er sich über das Gesicht fuhr, bemerkte er, dass
er sich seit mehreren Tagen nicht mehr rasiert hatte, denn jetzt war
der kleine Bart nicht mehr scharf abgegrenzt, sondern ging in die
Stoppeln über, die bis zu den Wangen reichten.
Es kümmerte Entreri nicht.
Der Wind löste viele Strähnen seines langen Haares aus dem Knoten in
seinem Nacken, und die flatternden Fäden schlugen ihm ins Gesicht
und peitschten schmerzhaft in seine Augen.
Es kümmerte Entreri nicht.
Er schaute nur angespannt auf Calimhafen hinab und versuchte, ebenso
konzentriert in sich selbst hineinzuschauen. Der Mann hatte fast zwei
Drittel seines Lebens in der weitläufigen Stadt an der Südküste verbracht,
war in ihr als Krieger und Attentäter bekannt geworden. Die Stadt
war der einzige Ort, den er wirklich Heimat nennen konnte. Als er
jetzt auf sie hinabschaute, wie sie braun und staubig dalag, wurde
die gnadenlose Wüstensonne strahlend von dem weißen Marmor der größeren
Bauten reflektiert. Ihr brennendes Licht beleuchtete auch die vielen
Verschläge, Hütten und abgerissenen Zelte, die die Straßen säumten
- schlammige Straßen, denn sie besaßen keine