Fanfic: Der Ruf des Berglöwen
Chapter: Der Ruf des Berglöwen
Der Ruf des Berglöwen
1998
Imogen wurde um fünf Uhr vom Krähen des Hahns geweckt. Dies war der
Moment, in dem die Sonne, die hinter dem Berg aufging, das Hühnerhaus
in helles Licht tauchte. Sie hatte das solide und trockene Haus selbst
gebaut, konnte damit aber den hiesigen Schreinern keine Konkurrenz
machen. Sie gähnte und reckte sich, dann fiel ihr ein, was sie sich
für diesen Tag vorgenommen hatte. Vorfreude stieg in ihr hoch. Sie
setzte sich auf, fuhr sich mit den Fingern durch ihr wirres Haar und
betrachtete eine Zeit lang die Schatten, die auf der Oberfläche des
Sees lagen. Das Schlafzimmer besaß zwei Fenster, eines in jeder der
beiden Dachschrägen. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie mit
Vorhängen zu versehen, da eines der Fenster zum Gipfel des Sgurr an
Airgid und das andere auf den Loch Gael hinausging. Ihre nächsten
Nachbarn wohnten fünfzig Meter weiter die Straße entlang.
Einen Augenblick stand sie nackt da und studierte die Lichtverhältnisse.
Ihre kleine Staffelei befand sich links neben dem Fenster, das den
Blick auf den See freigab. Das Fenstersims war breit und tief und
mit Kristallstücken übersät, darunter auch die beiden Hälften einer
Amethyst-Druse, die fachmännisch in der Mitte gespalten worden war.
Die Staffelei stand jetzt schon eine ganze Woche dort: Jeden Morgen
war das Licht anders, und sie versuchte, so viel wie möglich davon
auf die Leinwand zu bannen, bevor die Sonne zu hoch stieg. Da es ein
Ölgemälde war, an dem sie gerade arbeitete, drückte sie frische Farbe
auf die Palette. Die Sonne stand jetzt gerade richtig. Das Wasser
des Sees im Vordergrund sah noch ganz schwarz aus. Und genau das hatte
sie sich erhofft; dass der gute alte Charlie Abbott sie rechtzeitig
wecken würde. Die Hennen waren ein Albtraum für sie gewesen, bis sie
schließlich nach Skye hinübergefahren war und diesen Hahn gekauft
hatte. Die Hennen hatten ihre Nester gebaut, wo immer es ihnen gerade
einfiel, und Imogen hatte ihre Eier an den unglaublichsten Stellen
gefunden. Jetzt aber beaufsichtigte Charlie Abbott sie im Garten,
und sie legten ihre Eier brav in die Nistboxen.
Sie setzte sich, immer noch nackt, auf den Schemel vor der Staffelei
und ließ sich von der Sonne, die durch das Südfenster schien, den
Rücken wärmen. Das Licht war perfekt. Sie nahm einen Zwölferpinsel
zur Hand, mischte die Farben und begann an der Wasserfläche im Vordergrund
zu arbeiten. Blaue und schwarze Farbe hatte den Pinselschaft verschmiert,
färbte nun auch ihre Finger. Sie wischte sie an ihren nackten Schenkeln
ab. Pinselstriche sind die Stimme des Malers. Worte aus der Vergangenheit,
die Worte ihres Tutors am College, als er sich zu ihr herabbeugte,
um die Komposition zu studieren, der sie gerade etwas Leben einzuhauchen
versuchte. Edinburgh, damals, als sie achtzehn Jahre alt war. Sie
hielt mitten im Pinselstrich inne. Neunzehn Jahre war das nun her,
aber es kam ihr vor, als wäre es erst gestern gewesen. Mr. Montgomerie,
ein alter Mann mit mageren, knotigen Händen, der sich auf seinen Oberschenkeln
abstützte, wenn er sich zu einem seiner Studenten herabbeugte. Ihr
Stil ist Ihr Stil, Imogen. Ändern Sie ihn nicht, nur weil Sie Ihr
Sujet ändern. Ihr Stil drückt Ihre Persönlichkeit aus.
Sie lehnte sich zurück. Ein Boot fuhr über den See, der glatt wie ein
Spiegel dalag. Es war Morrisey. Er hatte eine kleine Landwirtschaft
am Nordufer gepachtet. Sein Traktor stand dort in einem Schuppen,
und er ruderte jeden Morgen über den Loch Gael und abends wieder zurück
zu seinem Cottage. Damit ersparte er sich den langen Weg am Ufer entlang.
Sie beobachtete ihn, wie er sich, nicht mehr als ein kleiner Fleck
am Bug, in die Riemen legte. Sie wollte ihn nicht in ihrem Bild haben.
Während sie wartete, bis er das andere Ufer erreicht hatte, veränderte
sich das Licht. Sie legte den Pinsel beiseite, lachte und stand von
ihrem Schemel auf. Das hier würde ohne Zweifel eine ziemlich langwierige
Arbeit werden.
Sie duschte, bürstete sich die Haare und flocht sie zu einem langen
Zopf, den sie, immer noch nass, über die Schulter warf. Wenn sie ihr
Haar auf diese Weise trocknen ließ, war es leichter zu bändigen. In
der Küche unten setzte sie den Kessel auf, dann trat sie in den warmen
Morgen hinaus und sah zum Himmel hinauf, der tiefblau war. Es war
dieselbe Farbe, die das Meer besaß, wenn man es vom Flugzeug aus betrachtete.
Über den Bergen zeigte sich nicht eine Wolke. Sie schirmte mit einer
Hand die Augen ab und ließ den Blick das Tal entlang zum Horizont
schweifen: Alles deutete darauf hin, dass dies ein wunderschöner Tag
werden würde.
Charlie Abbott kreischte laut auf, als sie den Schnappriegel am Hühnerstall
öffnete. Hier in der Gegend gab es nur noch sehr wenige Füchse. Die
meisten waren von den Wildhütern erschossen oder vergiftet worden,
aber das hatte zur Folge, dass es jetzt von Kaninchen nur so wimmelte.
Lediglich eine einzelne Wildkatze versetzte ihr Federvieh hin und
wieder in helle Aufregung. Imogen streute Körner aus, und Charlie
Abbott quetschte sich mit seinen sechs Hennen durch den engen Durchlass
ins Freie. Ihr Garten war nicht besonders groß, zu klein jedenfalls,
um das Pferd dort unterzubringen, aber groß genug, dass ihr Federvieh
in der Erde scharren konnte.
Wieder im Haus, frühstückte sie, dann warf sie einen Blick auf die
Uhr: Es war schon sieben. Sie hätte zwar noch Zeit gehabt, um zur
Koppel hinaufzufahren und nach ihrem Pferd zu sehen, aber sie hatte
heute Morgen in der Schule noch eine Menge zu tun, zumal sie heute
Nachmittag pünktlich Schluss machen wollte. Das Pferd kam auch ohne
sie zurecht. Sie brauchte die Stute nicht auf die Koppel zu lassen,
denn zu dieser Jahreszeit stand die Stalltür stets offen. Eine halbe
Scheibe Toast im Mund und eine Tasse Kaffee zwischen die Schenkel
geklemmt, fuhr sie die holprige Straße am Südufer des Loch entlang.
Der Loch Gael war seicht und flach, und das war auch der Grund, weshalb
das Sonnenlicht am frühen Morgen eine so besondere Wirkung hatte.
Verglichen mit dem Loch Duich oder dem Loch Alsh, in den dieser letztendlich
mündete, war der Loch Gael geradezu winzig. Bis zur Hauptstraße, die
auch nur aus einer einzigen Fahrspur bestand, waren es elf Kilometer.
Die Straße war letztes Jahr geteert worden, und das wirkte sich positiv
auf die Menge an Kaffee aus, die Imogen jeden Tag verschüttete. Die
Straße wand sich zunächst an den Häusern ihrer Nachbarn vorbei, bis
sie zum ersten Mal den Fluss querte. Im Grunde war dieser eher ein
Abfluss, der den Loch Gael mit dem Meer verband, das vor der Insel
Skye und den ihr vorgelagerten beiden kleineren Inseln Scalpay und
Raasay eine Meerenge bildete. Hätte sie die Wahl gehabt, so hätte
sie lieber in der Nähe der Burg oder der Schule gewohnt, aber das
Haus stand eben in Gaelloch. Nach dem Tod ihrer Tante hatte sie deren
Haus geerbt, da ihre Eltern es vorgezogen hatten, in Edinburgh zu
wohnen, und Ewan schon lange tot war. Ewan. Als sie mit dem schwarzen
Landrover über die Holzbrücke und das Viehgitter fuhr, musste sie
plötzlich an ihn denken. Sie hatte lange Zeit nicht mehr bewusst an
ihren Bruder gedacht. Seit seinem Tod waren nun schon fast dreißig
Jahre vergangen, die Erinnerung an den Tag, an dem er starb, war jedoch
so lebhaft, als wäre alles erst gestern geschehen. Manchmal tauchte
sein Gesicht von jenem Ort tief in ihrem Gedächtnis, an den sie es
verbannt hatte, an die Oberfläche. Sie sah ihn nie so, wie er ausgesehen
hatte, als er noch lebte, sondern immer nur als Wasserleiche mit weißer
Haut und aufgerissenen Augen. Sie schauderte und fuhr weiter. Die
Fahrt im Landrover war unbequem, denn eine Feder ihres Sitzes hatte
sich durch den Vinylbezug gebohrt. Der Wagen war alt und verbeult,
aber zuverlässig, und sie konnte damit den Pferdeanhänger auch über
unebenen Grund ziehen.
Während sie den Loch Long umfuhr, konnte sie über den Loch Alsh hinweg
nach Glas Eilean sehen, eine flache, grasbewachsene Insel an der Ostseite
der Landzunge. Die Insel Skye stieß dort fast mit dem Festland zusammen,
wo man durch die schmale Meerenge von Kyle Rhea an den Sandaig-Inseln
vorbei nach Südwesten zu den Inseln Eigg und Rhum gelangte. Einmal
war sie, als die Brunftzeit der Hirsche begonnen hatte, mit dem Boot
nach Rhum hinübergefahren, um dort zu malen. Abgesehen von Redynvre
hatte sie niemals Rothirsche wie diese in der Brunft gesehen. Die
Schule, in der sie unterrichtete, befand sich in Balmacara, auf halbem
Weg zum Fährhafen Kyle of Lochalsh. Früher hatte jedes Dorf eine eigene
Schule gehabt, aber die Jahre der Regierung Thatcher hatten dem ein
Ende gemacht. Jetzt wurden die Schulkinder meilenweit aus der ganzen
Umgebung mit Bussen herangekarrt.
Als sie von der Hauptstraße abbog und auf den Parkplatz fuhr, sah sie,
dass Colin Pattersons grüner Volvo bereits auf seinem gewohnten Platz
stand. Er kam immer als Erster, teils weil er der Schulleiter war
und