Fanfic: Der Ruf des Berglöwen
Vorbild sein wollte, teils aber auch, weil Imogen gewöhnlich vor
den anderen beiden Lehrkräften eintraf. Sie stellte den Motor ab und
blieb noch einen Augenblick im Auto sitzen, während sie ihren Kaffee
austrank und den Verkehr beobachtete, der von der Skye Bridge aus
dem Osten kam. Vier Pfund sechzig pro Überfahrt, kein Wunder, dass
die Hälfte der Inselbewohner sich immer noch weigerte, die Maut zu
bezahlen. Sie hatte früher viel auf Skye gemalt, seit die Brücke existierte,
war es jedoch nicht mehr dasselbe. Damals, als es nur eine Fähre gab,
hatte sich die Zahl der Besucher wenigstens in Grenzen gehalten.
Sie konnte Patterson durch das Fenster seines Klassenzimmers sehen,
im Tweedjackett mit ausgebeulten Taschen, den typischen Lederknöpfen
und einem Lederstreifen oben auf der Brusttasche. Er kam aus Glasgow
und war mit seiner Familie vor sechs Jahren, also etwa zur selben
Zeit wie Imogen, in den Norden gekommen. Man erzählte sich, er sei
stellvertretender Direktor einer Grundschule in der Innenstadt von
Glasgow gewesen, habe diese Aufgabe aber nicht bewältigt. Dennoch
war das nichts, worüber man sich lustig machen sollte. Sie hatte genau
dasselbe in Edinburgh getan, obwohl sie vielleicht aus ganz anderen
Gründen von dort weggegangen war. Unterrichten, sie hätte niemals
an Unterrichten gedacht: nicht in den ausgelassenen Tagen ihrer späten
Zwanziger, als ihr Landschaft und Leinwand alles bedeuteten. Die Malerei
war auch der Grund dafür, weshalb sie nach dem College nicht mit ihrem
Verlobten nach London gezogen war. Nun, zumindest war es das, was
sie sich einredete.
Patterson hob plötzlich den Kopf, sah sie in ihrem Landrover sitzen
und winkte ihr zu, während ein breites Lächeln auf seinem Gesicht
erschien. Imogen warf einen Blick auf die Uhr: Sie war immer noch
zu früh dran. Allein wollte sie jedoch die Schule nicht betreten,
auch wenn es noch gute zwanzig Minuten dauern würde, bis Jean Law
kommen würde. Jean musste zuerst ihre Jungen zum Bus bringen und dann
noch ihrem Mann den Lunch einpacken. Warum Malcolm sich seine Sandwiches
nicht selbst machen konnte, war ihr unbegreiflich. Sie seufzte, klemmte
den Kaffeebecher unter die Windschutzscheibe und öffnete die Fahrertür.
Sie ging nur schwer auf und quietschte. Imogen wagte es nicht einmal
mehr, im Sommer das beschädigte Fenster herunterzukurbeln, weil sie
wusste, dass es sich dann nicht wieder schließen ließ. Die Tür klappte
zu, und sie bemerkte, dass der Rost immer mehr am Bodenblech fraß.
Der Landrover stammte aus zweiter Hand, was also konnte sie schon
erwarten. Sie hatte ihn von John MacGregor, dem Gutsverwalter, erstanden,
als die Araber damals eines der MacRae-Güter aufkauften. Zum Glück
gab es noch ein paar MacRaes, und so war wenigstens die Burg nicht
veräußert worden. MacGregor gehörte ebenfalls zu den Männern, vor
denen sie sich in Acht nehmen musste. Allerdings war er viel leichter
zu durchschauen und zu ihr durchaus freundlich und zuvorkommend gewesen.
Er hatte dafür gesorgt, dass der Landrover gewartet und in einen fahrtauglichen
Zustand versetzt wurde, und er hatte ihr sogar dabei geholfen, das
Stück Land auf dem Hügel für Keira, ihr Highlandpony, zu erwerben.
Wenigstens war er nicht verheiratet, aber schon über fünfzig.
Patterson trat aus seinem Klassenzimmer und strahlte dabei wie immer
übers ganze Gesicht. »Morgen, Imogen.«
»Guten Morgen.« Sie brachte ein Lächeln zu Stande.
»Du bist heut aber früh dran.«
»Aye. Ich muss noch etwas vorbereiten.«
Er versperrte ihr den Weg, verharrte erwartungsvoll vor ihr wie eine
dicke Fliege. Imogens Klassenzimmer befand sich direkt neben dem seinen.
Er hatte sich so in den Korridor gestellt, dass sie nicht an ihm vorbeikam,
ohne ihn dabei zu berühren. Das war genau das, was er wollte, ungeachtet
der Tatsache, dass seine drei kleinen Töchter diese Schule besuchten
und seine Frau das Postamt des Dorfes leitete. Imogen zögerte.
»Wie geht es dir?« Er lächelte wieder und zeigte dabei sämtliche Zähne.
»Ganz gut. Aber ich habe viel zu tun, Colin.« Sie schickte sich an,
an ihm vorbeizugehen.
»Kann ich dir irgendwie helfen?«
»Nein. Nein.« Ohne sich noch einmal umzudrehen, betrat sie den Klassenraum
und schloss die Tür hinter sich. Die Tür zu schließen war eine deutliche
Botschaft, denn es war ein warmer Tag. Aber was blieb ihr sonst noch
übrig? Er öffnete die Tür wieder. Sie wusste, dass er das tun würde.
Sie hatte noch nicht einmal ihren Mantel auf den Haken gehängt.
Sie drehte sich um, und da lehnte er, die Hand auf der Klinke, im Türrahmen
und hatte einen Fuß vor dem andern gekreuzt. Eine ausgebeulte Kordhose,
dazu derbe braune Oxford-Schuhe.
»Denk bitte dran, dass heute Nachmittag eine Lehrerkonferenz stattfindet.«
»Ja, ich weiß.« Die Lehrerkonferenz, die hatte sie ganz vergessen.
Das war`s dann wohl mit ihrem Plan, gleich nach dem Unterricht in
die Berge zu reiten. Ihre Stimmung sank rapide. Für ihren Ritt zum
Tana Coire hätte sie nämlich schon am frühen Nachmittag aufbrechen
müssen, wenn sie noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück sein
wollte. »Gibt es viel zu besprechen?«
Er lächelte wieder. »Aye, so einiges. Schließlich ist das Schuljahr
bald zu Ende.«
Sie nickte, eine Hand in die Hüfte gestützt. »Gut, Colin. Dann mach
ich mich am besten an die Arbeit. Es hat keinen Sinn, früher zu kommen,
wenn ich die Zeit dann nicht nutze.«
»Sicher.« Er lächelte. »Nutze deine Zeit.«
Sie bekam eine Gänsehaut. Was für eine Arroganz. Es gab eine Art von
Arroganz, über die man hinwegsehen konnte: Wenn es einen guten Grund
dafür gab, wenn den Betreffenden etwas Besonderes auszeichnete. Diese
Arroganz war zwar auch nicht nötig, aber sie war verzeihlich. Peter,
ihr Exverlobter, hatte sie besessen, eine Art Blasiertheit, die auf
seiner Fähigkeit beruhte, einem Computer zu sagen, was er tun sollte,
damals, zu einer Zeit, als das sonst noch kaum jemand konnte. Und
diese Arroganz war es wahrscheinlich auch gewesen, die sie schließlich
auseinander gebracht hatte. Das und natürlich London. Peter war Engländer
und studierte an der Universität von Edinburgh. Sonntagmorgens spielte
er immer Golf. Wenn sie zurückblickte, stellte sie fest, dass sie
keinerlei Gemeinsamkeiten verbanden.
Patterson ließ sie jetzt in Ruhe, und sie begann mit der Unterrichtsvorbereitung.
Sie tat dies in dem Bewusstsein, dass es nur noch zwei Wochen bis
zu den Sommerferien waren, und dann würde sie bis zum September jeden
einzelnen Tag für sich allein haben. Die Berge lockten sie wie eh
und je, aber mit dem Wissen über die Entdeckung, die sie glaubte gemacht
zu haben, war ihre Anziehungskraft auf sie noch stärker geworden.
Im August würden ihre Eltern sie dann wie jedes Jahr für eine Woche
besuchen, sie jedoch in Frieden lassen, denn dies war eine Kunst,
die sie schon vor Jahren gelernt hatten. Sie musste nur noch diese
beiden letzten Wochen überstehen, dann gehörte die Zeit wieder ihr
allein.
Der Tag schleppte sich dahin. Die Kinder waren heute besonders anstrengend.
In der Mittagspause hatte sie zusammen mit Jean Law die Aufsicht auf
dem Schulhof. Jean stammte von der Westküste. Sie war fünfundvierzig
und damit um einiges älter als Imogen, dick, rothaarig und sommersprossig.
Sie hatte hellblaue Augen, die den Eindruck vermittelten, von allem
ein wenig zu viel gesehen zu haben. Sie sprachen über die bevorstehenden
Ferien.
»Dann sind natürlich meine Kinder zu Hause«, sagte Jean. »Und das war`s
dann wohl mit meinem Traum, mit einem italienischen Liebhaber an die
Riviera abzuhauen.«
Imogen lachte. »Würdest du das tatsächlich tun, ich meine, wenn du
die Gelegenheit dazu hättest?«
»Selbstverständlich würde ich das. Sonne, Meer und Sangria. Jede Menge
Sonnencreme und ein bronzefarbener Adonis, der mich zärtlich damit
einreibt.«
»In Italien trinkt man keine Sangria, Jean.«