Fanfic: Kein Alibi
Chapter: Kein Alibi
Kein Alibi
Der Schrei zerriss die vollklimatisierte Stille des Hotelflurs.
Erst vor wenigen Sekunden hatte das Zimmermädchen die Suite betreten,
nun taumelte es kreischend aus dem Raum und hämmerte schluchzend an
die Türen anderer Hotelzimmer. Später sollte ihr diese »Überreaktion«
eine Rüge der Hausdame einbringen, aber in diesem Augenblick saß ihr
die Hysterie im Nacken.
Unglücklicherweise hielten sich an jenem Nachmittag nur wenige Gäste
in ihren Zimmern auf. Die meisten genossen draußen den einzigartigen
Charme von Charlestons historischem Viertel. Endlich gelang es ihr
doch noch, einen Gast aufzutreiben, einen Mann aus Michigan, der eine
kurze Ruhepause in seinem Zimmer einlegte. Die ungewohnte Hitze hatte
ihn geschafft.
Trotz seiner Benommenheit angesichts der abrupten Störung war ihm sofort
klar, dass nur eine größere Katastrophe die enorme Panik des Zimmermädchens
ausgelöst haben konnte. Noch ehe er sich aus ihrem Gestammel einen
Reim machen konnte, rief er beim Concierge an und alarmierte das Hotelpersonal
über einen Notfall im obersten Stockwerk.
Zwei Charlestoner Polizisten, zu deren Revier das neu eröffnete Charles
Towne Plaza gehörte, reagierten sofort auf den Anruf. Ein nervöser
Angestellter des hoteleigenen Sicherheitsdienstes brachte sie zu jener
Penthouse-Suite, die das Zimmermädchen für einen frühen Abendservice
betreten hatte, um augenblicklich herauszufinden, dass ihre Dienste
nicht mehr gebraucht würden. Der Gast lag der Länge nach auf dem Salonboden
- tot.
Der Polizist kniete sich neben die Leiche. »Heiliger… das sieht ganz
nach -«
»Richtig, das ist er«, sagte sein Kollege genauso ehrfurchtsvoll. »Das
wird `nen ordentlichen Wirbel geben, stimmt`s?«
Er bemerkte sie im selben Moment, in dem sie den Pavillon betrat.
Selbst aus einer Menge Frauen, die fast ausschließlich knappe Sommerkleidung
trugen, stach sie klar heraus. Überraschenderweise war sie allein.
Als sie innehielt, um sich zu orientieren, blieb ihr Blick kurz am
Podium hängen, wo sich die Band abmühte, ehe sie zur Tanzfläche und
anschließend zu der kunterbunten Ansammlung von Stühlen und Tischen
ringsherum weiterwanderte. Nachdem sie einen freien Tisch entdeckt
hatte, steuerte sie darauf zu und setzte sich.
Der Pavillon war ein Rundbau von ungefähr dreißig Metern Durchmesser.
Obwohl es sich um eine offene Konstruktion mit konischem Dach handelte,
von dessen Unterseite weiße Lichterketten baumelten, staute sich unter
der schrägen Decke der Schall zu einer unerträglichen Lärmkulisse.
Ihren Mangel an musikalischem Talent machte die Band durch Lautstärke
wett. Offensichtlich glaubten die Musiker, ihre verpatzten Noten hinter
steigenden Dezibelwerten besser verstecken zu können. Trotzdem musste
man ihnen derben Enthusiasmus und Mut zur Selbstdarstellung zugestehen.
Gitarrist und Keyboarder schienen die Töne buchstäblich aus ihren
Instrumenten zu dreschen. Der geflochtene Bart des Mundharmonikaspielers
hüpfte bei jedem Ruck seines Kopfes. Während der Geiger mit dem Bogen
über die Saiten sägte, tanzte er dazu so schwungvoll, dass man seine
gelben Cowboystiefel sah. Der Schlagzeuger beherrschte offensichtlich
nur einen einzigen Rhythmus, aber dem widmete er sich hingebungsvoll.
Anscheinend störte sich die Menge nicht an der Katzenmusik, genauso
wenig wie Hammond Cross. Ironischerweise wirkte der Krach des Jahrmarkts
irgendwie beruhigend. Er nahm den Lärm in sich auf: die Juchzer aus
der Budengasse, die Pfiffe johlender Halbstarker oben im Riesenrad,
das Geplärr müder Babys, scheppernde Glocken, Pfeifengejaule und Hörnerquäken
- jeden Schrei, jedes Lachen, das zu einem Volksfest gehört.
Der Besuch eines Jahrmarkts hatte nicht in seinem Terminkalender gestanden.
Obwohl dafür wahrscheinlich schon früh in der Lokalzeitung und im
Fernsehen Werbung gemacht worden war, war es ihm nicht aufgefallen.
Er war ganz zufällig hierher geraten, auf dieses Gelände ungefähr eine
halbe Stunde außerhalb von Charleston. Was ihn zum Anhalten getrieben
hatte, war ihm schleierhaft, da er gewiss nicht zu denen gehörte,
die begeistert Volksfeste besuchten. Seine Eltern hatten ihn garantiert
nie auf eines mitgenommen. Derartige Volksbelustigungen hatten sie
unter allen Umständen gemieden. Das war nicht ihre Welt, nicht ihresgleichen.
Auch Hammond hätte dieses Fest normalerweise gemieden, nicht weil er
ein Snob war, sondern weil er wegen seiner langen Arbeitszeiten mit
seiner Freizeit geizte und seinen Zeitvertreib sehr bewusst wählte:
eine Runde Golf, ein paar Stunden Angeln, ein gemütliches Abendessen
in einem guten Restaurant. Aber ein Jahrmarkt? So etwas gehörte nicht
zu seinen Lieblingsbeschäftigungen.
Aber an diesem besonderen Nachmittag kamen ihm die Menschenmenge und
der Lärm gerade recht. Allein hätte er nur über seinen Problemen gebrütet
und sich in eine bedrückte Stimmung hineingesteigert. Wer brauchte
schon so etwas an einem der wenigen Wochenenden, die noch vom Sommer
übrig waren?
Auf der Autobahn hatte er gezwungenermaßen auf Kriechtempo abbremsen
müssen und war dabei in eine Fahrzeugschlange geraten, die sich zentimeterweise
auf einen Behelfsparkplatz zuschob. Eigentlich handelte es sich um
eine Kuhweide, die ein geschäftstüchtiger Farmer in einen Parkplatz
verwandelt hatte. Und so war auch er brav zwischen den anderen Autos,
Vans und Geländewagen geblieben.
Er zahlte dem Tabak kauenden jungen Mann, der für den Farmer abkassierte,
zwei Dollar und hatte das Glück, für sein Auto einen schattigen Platz
unter einem Baum zu finden. Vor dem Aussteigen zog er Anzugjacke und
Krawatte aus und rollte seine Hemdsärmel hoch. Während er sich vorsichtig
einen Weg zwischen den Kuhfladen bahnte, hätte er liebend gerne Anzughose
und Halbschuhe gegen Jeans und Stiefel eingetauscht. Aber auch so
spürte er, wie sich seine Laune zusehends besserte. Hier kannte ihn
niemand. Wenn er nicht wollte, musste er mit keinem reden. Hier war
er zu nichts verpflichtet, musste an keinen Konferenzen teilnehmen
oder irgendwelche Telefonanrufe beantworten. Hier draußen war er weder
Geschäftsmann noch Kollege und schon gar nicht Sohn. Allmählich schwanden
Anspannung, Ärger und die Last der Verantwortung. Das Gefühl von Freiheit
wirkte berauschend.
Der Jahrmarktsplatz war mit einem Plastikseil abgeteilt, an dem bunte
Wimpel reglos in der Hitze hingen. In der lastenden Schwüle duftete
es verführerisch nach sämtlichen ungesunden Leckereien. Aus der Entfernung
hörte sich die Musik nur halb so schlimm an. Sofort war Hammond froh,
dass er angehalten hatte. Das brauchte er - diese Isolation.
Trotz der vielen Menschen, die sich durch das Drehkreuz zwängten, war
er in einem höchst realen Sinne isoliert. Mit einem Mal schien es
die bessere Wahl zu sein, in einer großen lärmenden Menschenmenge
unterzugehen, als einen einsamen Abend in seinem Blockhaus zu verbringen,
so wie er es ursprünglich geplant hatte.
Die Band hatte zwei Songs gespielt, seit die Frau mit den rotbraunen
Haaren auf der ihm entgegengesetzten Pavillonseite Platz genommen
hatte. Hammond hatte sie unaufhörlich beobachtet und seine Vermutungen
angestellt. Höchstwahrscheinlich erwartete sie jemanden, vermutlich
einen Ehemann mit einer Reihe Kinder. Sie wirkte ein wenig jünger
als er, vielleicht Anfang dreißig. Genau das richtige Alter für ein
Mitglied des Festausschusses, die Mutter eines Jungpfadfinders, eine
Vertreterin des Elternbeirats. Eine jener Hausfrauen, deren einzige
Sorge der Auffrischung von Diphtherie- und Tetanusimpfungen, Zahnspangen
und dem strahlendsten Weiß und den buntesten Farben ihrer Wäsche galten.
Obwohl seine gesammelten Kenntnisse dieses Frauentyps aus der Fernsehwerbung
stammten, schien sie dem Durchschnittsbild zu entsprechen.
Mit einer Ausnahme: Sie war ein bisschen zu… zu… nervös. Sie wirkte
nicht wie eine Mutter mit kleinen Kindern, die ein paar Minuten Atempause
genoss, während Daddy mit den Kids eine Runde Karussell fuhr. Sie
hatte nicht die kühl-kompetente Ausstrahlung der Frauen aus seinem
Bekanntenkreis, der Mitglieder in Frauenverbänden und anderen wohltätigen
Vereinen, die sich zum Lunch trafen und für ihre Kinder Geburtstagspartys
und Dinner für die Geschäftsfreunde ihrer Männer ausrichteten, die
zwischen Aerobicstunden und Bibelkreisen ein- bis zweimal pro Woche
in ihren schicken Clubs Golf oder Tennis spielten.
Andererseits hatte sie auch nicht den weichen reifen Körper einer Frau,
die zwei oder drei Nachkommen geboren hatte. Ihre Figur war straff
und sportlich. Sie hatte schöne - nein, tolle - Beine, straff, schlank
und sonnengebräunt, die durch einen kurzen Rock und hochhackige Sandalen
noch betont wurden. Ihr ärmelloses Top hatte einen spitzen Ausschnitt
wie ein Pullunder, darüber trug sie eine passende Strickjacke lässig
um den Hals gebunden, die sie