Fanfic: Die brennende Gasse

Chapter: Die brennende Gasse

Die brennende Gasse




Wann hatte Alejandro Canches die Sprache auf dem Papyrus, der vor


im lag, zuletzt gelesen? Er war so schläfrig, daß es ihm nicht einfiel.


In Spanien, dachte er; nein, in Frankreich, als ich mich das erste


Mal hier aufhielt.




Ach ja, erinnerte er sich, natürlich, in England, der Brief von meinem


Vater, den ich in meinem Tagebuch zurücklassen mußte, als wir flohen.




Er war bemüht, sich dieser Zeit zu entsinnen, den Schleier der Jahre


wegzuschieben; denn unter der bitteren Weisheit des reifen Mannes


schlummerte der süße Eifer des einstigen Knaben, der diese Sprache


bei Kerzenlicht studiert hatte, von seiner Familie aufmerksam beobachtet.


Die Aufgabe machte ihm damals Freude, während andere Jungen seines


Alters sich beschwerten. Was nutzt all das Studieren? wiederholten


sie verdrießlich. Bald sind wir sowieso alle gezwungen, wieder eine


andere Sprache zu erlernen.




Falls wir nicht vorher umgebracht werden, habe ich damals gedacht,


erinnerte er sich jetzt.




Die erste Seite hatte er beendet, die Symbole entziffert, die Worte


endlich offenbart. Er empfand wieder den Stolz jenes kleinen Jungen,


den Hunger nach Lob, der niemals wich. In der Tiefe seiner unsterblichen


Seele sehnte er sich schmerzlich danach, weiter zu übersetzen; aber


sein sterblicher Körper schien entschlossen, ihm dieses Glück zu verweigern.


Würde er später in einer kalten Lache seines eigenen Speichels erwachen,


die Buchstaben unter seiner Wange verschmiert und ruiniert? Oder würde


die Kerze herunterbrennen, während er mit dem Kinn auf der Brust vor


sich hin schnarchte, und ihr Wachs auf die Blätter tropfen lassen?


Beides durfte nicht geschehen.




Vorsichtig blätterte er die Papyrusseiten zurück und überflog noch


einmal, was er übersetzt hatte. Die Symbole, mit unglaublicher Präzision


in reinstem Gold aufgetragen, verliefen auf der Seite von rechts nach


links.




Abraham der Jude, Prinz, Priester, Levit, Astrologe und Philosoph,


wünscht dem Volk der Juden, vom Zorne Gottes im Land der Gallier zerstreut,


Gesundheit.




Diese Seiten bargen laut dem Apotheker große Geheimnisse. Nur weil


er sich in einer verzweifelten Lage befand, hatte es ferner geheißen,


dachte er überhaupt daran, sich von einem solchen Schatz zu trennen.


Und so hatte die junge Frau, die Alejandro Canches als ihren père,


ihren Vater, bezeichnete, in der Apotheke aus der Tasche ihres Rocks


die Goldmünze herausgeholt; auf Alejandros Geheiß mußte sie sie immer


bei sich tragen, für den Fall, daß sie irgendwie getrennt würden,


und nun tauschte sie sie kühn gegen das Buch ein. Alejandro hatte


das Mädchen ausgeschickt, um Kräuter zu holen, und sie war mit Blättern


anderer Art zurückgekehrt - im vollen Bewußtsein, was sie ihm bedeuten


würden.




Er schaute sich in der dunklen Hütte um, die gegenwärtig ihre Wohnstatt


darstellte, und lächelte, als er ihre schlafende Gestalt sah. »Ich


habe dich also gut unterrichtet«, flüsterte er.




Stroh raschelte, als die junge Frau sich bewegte. Ihre sanfte Stimme


kam aus dem Finstern, liebevoll, aber auch tadelnd.




»Père? Seid Ihr noch wach?«




»Ja, mein Kind«, sagte er, »dein Buch will mich nicht loslassen.«




»Ich bin kein Kind mehr, Père. Ihr müßt mich bei meinem Namen oder


›Tochter‹ nennen, wenn es Euch gefällt. Aber nicht ›Kind‹. Und es


ist Euer Buch - aber ich bedaure allmählich, daß ich es für Euch gekauft


habe. Ihr müßt jetzt zu Bett gehen und Euren Augen etwas Frieden gönnen.«




»Meinen Augen mangelt es nicht an Frieden. Sie haben viel zuviel davon.


Jetzt hungern sie nach den Worten auf diesen Seiten. Und du darfst


diesen Kauf nie bereuen!«




Sie stützte sich auf einen Ellbogen und rieb sich energisch die Schläfen.


»Das werde ich aber, wenn Ihr Eurer eigenen Warnung nicht folgt, daß


Überanstrengung die Augen ruiniert.«




Er spähte durch das Halbdunkel nach der jungen Frau, die unter seiner


Obhut so schön und gediegen war, so gerade und stark und hell. An


Gesicht und Händen trug sie noch schwache Spuren von Kindlichkeit;


aber auch die würden bald dahinschmelzen, das wußte er, zusammen mit


ihrer Unschuld. Doch noch glänzte der rosige Schimmer des jungen Mädchens


auf ihren Wangen, und Alejandro wünschte sich im stillen, es möge


ihr ein wenig Aufschub vergönnt sein.




Sie wird bald Frau, gestand er sich ein. Dieser Gedanke war von einem


vertrauten Gefühl begleitet, das er noch nicht befriedigend definieren


konnte - wenn er auch oft meinte, »hilflose Freude« sei die zutreffendste


Beschreibung dafür, die er je finden würde. Die hilflose Freude wohnte


in seinem Herzen, seit er sich vor zehn Jahren plötzlich gezwungen


sah, dieses Kind großzuziehen; inzwischen war sie gewachsen, als er


feststellte, daß er trotz seiner beträchtlichen Gelehrsamkeit nicht


besser auf diese Aufgabe vorbereitet war als ein ungebildeter Mensch.


Obwohl manch einer einfach zu wissen schien, was und wann zu tun war,


gehörte er selbst nicht zu denen, die ein Kind mit angeborenem Instinkt


behandelten. Er hielt es für einen grausamen Streich Gottes, daß der


schwarze Tod so viele Mütter dahinraffte - zusammen mit den Ärzten


hatten sie sich abgemüht, ihren sterbenden Ehemännern und Kindern


beizustehen; zuletzt waren sie dann wegen ihrer Nähe zu den Kranken


in schrecklich großer Zahl selbst gestorben. Das Sterben von Müttern


und Ärzten tat Alejandro in der Seele weh; doch was die Priester betraf,


wünschte er sich beinahe, die Pest hätte mehr von ihnen dahingerafft.


Die Überlebenden aus ihren Reihen waren diejenigen, die sich zu ihrem


eigenen Schutz von der Welt abgesondert hatten, während ihre Brüder


im Dienst am Nächsten umkamen. Er betrachtete diese Heuchler unter


den Klerikalen als einen abgrundtief niederträchtigen Haufen.




Alejandro hatte das Mädchen nach besten Kräften allein großgezogen,


ohne Ehefrau; denn er wollte die Erinnerung an die Frau, die er in


England geliebt hatte, nicht durch eine reine Zweckheirat besudeln.


Und Kate fiel es nicht ein, sich über die fehlende Mutter zu beklagen.


Sie hatte die Schwelle der Weiblichkeit mit ungewöhnlicher Anmut erreicht


und schickte sich nun an, sie zu überschreiten. Als mutterloses Mündel


eines jüdischen Renegaten war sie durch irgendein unerhörtes Wunder


zu einem anbetungswürdigen Geschöpf herangewachsen.




Und dieses liebliche Wesen sprach jetzt: »Père, ich bitte Euch, folgt


Eurer eigenen Weisheit. Legt Euch schlafen. Sonst werde ich das Lesen


für Euch übernehmen müssen, wenn Ihr ein alter Mann seid.«




Das zauberte ein Lächeln auf seine Lippen. »Möge Gott in Seiner Weisheit


dafür sorgen, daß ich das dann auch noch erleben darf. Und du bei


mir weilst.« Sorgfältig schloß er die Handschrift. »Aber du hast recht.


Ich sollte mich ausruhen. Auf einmal kommt mir das Stroh schrecklich


einladend vor.«




Es klopfte an der Tür.




Beide wandten sich gleichzeitig nach dem ungewöhnlichen Geräusch um,


und Kates Stimme in der Dunkelheit war ein erschrockenes Wispern:


»Père? Wer…«




»Psst, Kind… sei still«, hauchte er zurück. Erstarrt saß er auf seinem


Stuhl. Das Licht der Kerze flackerte jedoch weiter.




Wieder klopfte es, und dann ertönte die kräftige Stimme eines Mannes.


»Ich bitte Euch, ich brauche jemand, der heilkundig ist… der Apotheker


hat mich geschickt.«




Alejandro warf Kate, die zitternd auf ihrem Strohlager saß und sich


die wollene Decke schützend bis zum Hals hochgezogen hatte, einen


furchtsamen Blick zu. Er beugte sich in ihre Richtung: »Woher weiß


er, daß ich ein Heiler bin?«




»Vielleicht denkt er, daß ich die Heilerin bin!«




»Was? Was ist denn das für ein Unsinn?«




»Irgend etwas mußte ich dem Apotheker doch sagen, Père«, flüsterte


sie zurück, und ihre Stimme klang fast verzweifelt. »Der Mann war


ungeheuer neugierig und wollte gar nicht aufhören mit Fragen! Übrigens


ist es kein Unsinn. Ihr selbst habt mich in den Heilkünsten unterwiesen.


Um ihn zufriedenzustellen, habe ich ihm gesagt, daß ich…«




»Hebamme!« kam die drängende Bitte von der anderen Seite der Tür. »Bitte,


ich flehe Euch an, öffnet die Tür! Eure Hilfe wird nötig gebraucht!«




Am liebsten hätte Alejandro ihr einen väterlich konsternierten Blick


zugeworfen, ihr mit dem erhobenen Finger gedroht, niemals wieder dürfe


sie so viel von sich geben. Aber ein Fremder stand vor der Tür. »Warum


hast du mir das nicht früher erzählt?« fragte er unterdrückt.




Sie beeilte sich, es ihm zu erklären. »Es schien nicht notwendig, Père


- als der Apotheker fragte, warum ich die Kräuter haben wollte, nach


denen Ihr mich geschickt hattet, stellte ich mich als Schülerin der


Heilkünste vor! Das war der Grund, warum er mir das Buch zeigte. Ich


schwöre, von Euch habe ich nichts gesagt.«




Er sah Angst in ihren Augen und begriff,
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