Ein neues Zuhause
Sie liefen nun schon seit über drei Monaten durch den endlos scheinenden Wald und die meisten waren genervt und verdammt reizbar geworden. Immer öfter war es zum Beispiel zwischen Starskin und Hacker zu Ausschreitungen gekommen, die sich nur schwer wieder schlichten ließen. Dass die beiden sich von Anfang an nicht wirklich vertragen hatten wussten ja alle, aber in letzter Zeit war es ziemlich extrem geworden. Natürlich war Selene sich im Klaren über ihre momentane Situation und so versuchte sie, den anderen immer wieder klarzumachen, weshalb sie gerade diesen Weg gingen. Es war nun einmal am sichersten, durch den Wald zu laufen und sich dabei von ihren Verbündeten, den Wölfen, beschützen zu lassen, als auf offener Straße zu fliegen und damit Gefahr zu laufen, von Menschen gesehen zu werden. Viele verstanden diese Vorsichtsmaßnahme zwar, aber es war ihnen einfach unheimlich, durch einen finsteren Wald zu laufen mit der Gewissheit, dass sich nicht weit von ihnen ein Wolfsrudel aufhielt. Besonders die Jüngeren unter ihnen bekamen panische Angst, wenn sich mal wieder das Alphamännchen in ihrem Lager kurz vor Sonnenaufgang blicken ließ und Selene mit ihm über den weiteren Weg sprach. Natürlich war die Allianz mit den Wölfen durchaus nützlich, so hatten sie die jungen Streuner schon um mehr als ein Jägerdorf mitten im Wald und um so manche Holzfällerhütte herum geführt und einmal sogar um ein großen Moorgebiet, trotzdem blieben es Wölfe. Selene hatte von Beginn an gewusst, wie viel Furcht ihre Freunde vor den Graupelzen hatten, doch war es notwendig, dass sie sich mit ihnen unterhielt. Nur so konnte sie die anderen am schnellsten durch den dichten Wald führen. Aber immer, wenn sie die erschrockenen Gesichter der Jüngeren sah, machte sie sich Vorwürfe. So auch jetzt. Wieder hatten sie ein Lager aufgeschlagen. Bis zum Sonnenaufgang würde es noch eine gute Dreiviertelstunde dauern. Der Anführer des Wolfsrudels, ein alter brauner Wolf, mit unzähligen Narben übersät, trabte locker auf sie zu. Gleich würden sich die Jüngeren wieder hinter die Rücken von Starskin, Stone Claw, Sa’rivah und Steel Horned zurückziehen. Sie seufzte und ging ein die Knie, um dem braunen Wolf in die Augen zu sehen. „Sie werden unruhig, deine Schützlinge“, stellte er in tiefem, grollenden Ton fest. Dass ihn außer Selene niemand verstehen konnte, machte ihm offenbar nichts aus. „Ich weiß, Ba’arven. Umso wichtige ist es, dass du mir sagst, wie lange wir noch durch dieses verflixte Dickicht laufen müssen“ Ba’arven lachte in seiner wölfischen Art. „Ich dachte, du liebst Wälder. Wenn ihr diesem Tempo weiterlauft, seid ihr in zwei Nächten am Ende des Waldes. Dann fängt die weite Steppe an. Bis dahin werden wir euch noch begleiten, ab dem Waldrand werden euch die Steppenwölfe den Weg zu den Fangard zeigen.“ Erleichterung machte sich auf Selenes Miene breit. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Die beste Nachricht seit langem. Die anderen werden sich freuen, das zu hören“ „Also dann bis morgen früh. Ihr könnt euch ganz in Ruhe schlafen legen. Es sind im Umkreis von 30 Meilen keine Menschen.“ Selene richtete sich auf „Danke, Ba’arven. Danke auch deinen Wölfen. Treibt bis Sonnenuntergang ein Hirsch- oder Wildschweinrudel in unsere Richtung, dann werden wir auch für euch eine reiche Beute erlegen“, versprach sie dem Wolf. Der senkte leicht den Kopf und lief zu seinem Rudel zurück. Die allgemeine Aufregung legte sich allmählich. „Was machen die nur immer so einen Aufruhr? Sie müssten doch mittlerweise wissen, das Ba’arven und die Wölfe ihnen nichts tun“ „Du kannst es ihnen nicht übel nehmen, Hawk. Sie sind noch jung.“ Hawk stand neben Selene und schüttelte nur den Kopf. „Also, was hat er gesagt? Es müssen gute Nachrichten gewesen sein, wenn du so lächelst.“ Immer noch mit einem breiten Schmunzeln drehte sie sich zu den anderen um und verschaffte sich mit lauter Stimme Gehör. „Freunde, Ba’arven der Anführer der Waldwölfe, sagte mir, das wir in zwei Tagen den Waldrand erreicht haben werden. Die Steppe und damit die Fangard sind nicht mehr weit!“ Viele freudige Gesichter sahen zu ihr auf. Doch es gab auch einige, die sie nicht gerade freundlich anfunkelten. Starskin trat vor. Wie immer wenn er sauer war, schien der weiße Stern auf seiner Stirn heller zu funkeln. „So, die Wölfe also wieder.“ Es war eine trockene Feststellung, doch Selene konnte die lodernde Wut in ihm spüren. Sie zwang sich, ruhig und beherrscht zu sprechen. „Ja, die Wölfe. Was willst du sagen, Starskin?“ Starskin trat mit verschränkten Armen einen Schritt weiter vor. Gleichzeitig merkte Selene, das Hawk neben sie getreten war. Starskin warf ihm einen schnellen Blick zu und antwortete: „Wie lange willst du dich von diesen Viechern noch in die Irre führen lassen? Wir folgen ihnen jetzt schon drei Monate lang und noch immer ist kein Ende in Sicht. Und jetzt sagen sie, es wären nur noch zwei Tage bis zur Steppe. Das glaubst du doch nicht etwa wirklich?“ Sie setzte schon zu einer gepfefferten Antwort an, doch dann fühlte sie Hawks weiche Federn an ihrem Körper. Er war noch einen Schritt vorgegangen und baute sich vor Starskin auf. Bei einer Größe von gut drei Metern wirkte das auch dementsprechend. „Wann haben die Wölfe jemals gelogen? Sag mir nur ein einziges Mal, an dem sie die Unwahrheit gesprochen hätten!“ Er donnerte das dermaßen auf ihn herab, dass Starskin auf einmal um einige Zentimeter zu schrumpfen schien und sich zurückzog. Seine Augen funkelten ihn zwar weiterhin böse an, aber Hawk ignorierte ihn und sprach zu den anderen: „Wan hat Selene uns angelogen? Sie hat uns ein Zuhause versprochen. Und sie wird uns ein Zuhause geben. Wer ihr nicht glaubt, kann alles gerne auf eigenem Weg versuchen. Aber dann werdet ihr nichts weiter als einige kleine Streuner sein, die wahrscheinlich irgendwann von einem Menschen abgeschossen werden. Es liegt an euch.“ Dann zog er sich zurück.
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„Danke. Aber ich hätte es auch so geschafft“, murmelte sie ihm zu. Er klackerte mit dem Schnabel und erwiderte: „Ich weiß. Wahrscheinlich hätte es damit geendet, dass du Starskin gegen den nächsten Baum gedrückt und mit den Augen gefunkelt hättest.“ Sie musste lachen und flog auf eine Eiche. Hawk war nach zwei Flügelschlägen bei ihr. Sie sah ihn sah ihn grinsend an. „Manchmal glaube ich, dass du eindeutig zu viel über mich weißt“ Er zuckte nur mit den Achseln und setzte ein freches Grinsen auf. „Ich bin ein guter Beobachter. Und du bist ziemlich berechenbar.“ Sie schubste ihn und er konnte mit Müh und Not seine Klauen in den Ast schlagen, um nicht runterzufallen. Kopfüber wie eine Fledermaus hing er nun am Baum, die Federschwingen eng an den Körper gelegt. Von weitem konnte man ihm mit einem übergroßen Tannenzapfen verwechseln, hätte er nicht an einer Eiche gehangen. Selene beugte sich zu ihm runter. „Na, hast du das auch vorher gesehen, Meister Hellseher?“ Er hackte spielerisch mit dem Schnabel nach ihr und kletterte wieder auf den Ast zurück. „Nein. Offenbar kann man sogar mich noch überraschen“
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Die Szene war nicht unbeobachtet geblieben. Scylla, Marika, Spear und Sa’rivah hatten alles genau gesehen und spekulierten nun ausgiebig über die Deutung des Geschehens. „Was meint ihr, ob die beiden verliebt sind?“, fragte Sa’rivah, die mit einem sehr scharfen Verstand gesegnet worden war. „Ineinander meinst du? Quatsch, niemals! Die beiden passen doch gar nicht zusammen“, entgegnete Scylla, Marikas Gefährte. „Und warum nicht?“, gab Marika zurück. Sie war Selenes beste Freundin. „Er ist ein Vogel und sie ist eine Wölfin. Naja, also, das passt doch gar nicht zusammen!“, erwiderte ihr Gefährte. „Aber sie verstehen sich verdächtig gut, oder?“, gab auch Spear seinen Senf dazu. „Marika, du bist doch Selenes beste Freundin. Sie muss doch mal irgendetwas in der Richtung erwähnt haben. Es kann doch nicht sein, das sie einfach nur gute Freunde sind“, überlegte Sa’rivah. Die kleine Gargoyle schüttelte nur den Kopf: „Nein, nie. Sie meint nur, dass er ein sehr guter Freund sei, dem man voll und ganz vertrauen könne.“ Sie beobachten die beiden Gargoyles weiter. Selene half Hawk lachend auf den Ast zurück, dann unterhielten sich die zwei weiter. Es schien ein sehr vertrauensvolles Gespräch zu sein. Nach kurzer Zeit legte Hawk eine Hand auf ihre Schulter. „Seht ihr, seht ihr!“, rief Spear ganz aufgeregt und hopste auf und ab. „Also er mag sie auf jeden Fall mehr als nur als Freundin, da könnt ihr Gift drauf nehmen.“ Scylla packte ihn an den Schultern und zwang ihn, ruhig sitzen zu bleiben. „Das heißt noch gar nichts. Er will sie vielleicht nur trösten oder so. Das macht man unter Freunden nun mal“
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Noch immer lachend streckte Selene ihm die Hand entgegen. „Wieder Freunde?“ Zuerst mimte Hawk noch den Eingeschnappten, doch als sie ihn freundschaftlich anstubste, schlug er ein. Selene wurde plötzlich wieder ernst. „Wie lange werden sie mir noch folgen?“ Hawk konnte ihre Trauer fast körperlich spüren. Aber da war noch etwas. Etwas, was er von seiner Anführerin nicht kannte. Angst. „Sie vertrauen darauf, dass du sie zu den Fangard bringst. Und dass sie damit ein neues Zuhause bekommen“ Er sah sie an. Ihr Blick war gegen den unsichtbaren Horizont gerichtet und er meinte, ein feuchtes Schimmern darin zu entdecken. Er fügte schnell noch an. „Außerdem ist der Wald schon lichter geworden.“ Nach einer kurzen Pause sagte sie traurig: „Nicht alle haben so gute Augen wie du, mein Freund.“ Dessen war Hawk sich bewusst. Er klackerte mit dem