Fanfic: Doppelleben - Kapitel 11

aufgebracht. „Mit einer Pistole?“, fragte der Zugführer verwundert. Stöhnend schlug Lars eine Hand vor das Gesicht. „Eine Pistole ist ein Gerät, mit dem man Patronen...“ Der Zugführer unterbrach ihn: „Natürlich weiß ich, was eine Pistole ist!“


Lars geriet langsam in Wut über diesen entweder dummen oder bedächtigen Mann. „Verdammt noch mal, dann tun sie doch was!“


So langsam überkam den Zugführer anscheinend die Angst, denn Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und seine Bewegungen wurden fahriger. „Tun? Was soll ich denn tun?“, fragte er verstört. „Was weiß ich! Rufen sie in der Zentrale an und fordern sie Hilfe an oder irgendwie so was!“


Der Mann wandte den Kopf wieder auf die Apparaturen vor sich und hob die Hände waagerecht vor sich. „Zentrale, natürlich! Anrufen...“ Sein Auge zuckte hin und her, bis es schließlich einen Hörer erblickt hatte. Hastig griff der Zugführer danach und fing fieberhaft an, hineinzusprechen.


Doch er war nicht weit gekommen, als plötzlich ein ohrenbetäubender Knall ertönte, so dass Lars und Alexandra vor Schreck fast das Herz stehen blieb. Der Zugführer sackte nach vorne, bis sein Kopf mit einem dumpfen Geräusch auf dem Armaturenbrett vor ihm aufschlug, während unzählige Blutspritzer die Sicht durch die Windschutzscheibe verdeckten und langsam zu einer Lache verschmolzen.


Lautlos baumelte der Telefonhörer an seinem Kabel und schwang hin und her. Lars und Alexandra starrten mit weit aufgerissenen Augen auf die Szene, ohne erst wirklich zu begreifen. Als Alexandras Lippen ein kleiner Schluchzer entwich, erwachte Lars aus seiner Trance.


Er fuhr herum und sah sich einer noch rauchenden Waffe gegenüber. Der Schaffner stand in der Tür und starrte ihn mit irrem, durchdringendem Blick an. Nur irgendwo im Hinterkopf bekam Lars mit, wie Alexandra „Oh mein Gott!“ flüsterte, auf die Knie sackte und sich von Schluchzern geschüttelt übergab.


Mit einem Mal wuchs eine ohnmächtig Wut auf den Mann in Lars, die fast sofort das Einzige war, was er noch empfand. Er riss urplötzlich das Knie hoch, so dass es dem Mann die Waffe aus der Hand schleuderte und bohrte ihm fast zeitgleich die Faust in das Gesicht. Als der Schaffner zu Boden ging, schob sich Lars an ihm vorbei und ging ein wenig zurück, um Alexandra aus dem Gefahrenbereich zu bringen.


Während er rückwärts ging, ließ er den Schaffner keinen Moment aus den Augen, der sich mit einer Hand das Gesicht hielt und sich stöhnend aufrichtete. Doch im nächsten Augenblick schollt Lars sich selber, dass er schon wieder so nachlässig gewesen war, die Pistole zu vergessen, nach der der Mann nun fasste.


Gerade als der Schaffner die Waffe ergriff, prallte Lars mit dem Rücken gegen die Schiebetür. Blitzschnell wirbelte er herum, riss sie auf und warf sich zur Seite, wobei er die Tür hinter sich zuzog.


Er hatte keine Sekunde zu spät reagiert, denn fast zeitgleich zu seinem Aufprall löste sich der Schuss und ließ die beiden Fenster der gegenüberliegenden Schiebetüren in tausend Stücke zersplittern. Ein Scherbenregen ergoss sich über Lars, der instinktiv die Arme über seinen Kopf riss.


Er sprang gerade wieder auf, als der Schaffner die Tür aufriss. Da Lars sich neben der Tür befand, konnte er dem Mann die Pistole erneut aus der Hand treten. Polternd rutschte sie in eine Ecke. Brüllend rannte der Schaffner auf Lars zu und schlug wie von Sinnen auf ihn ein. Völlig überrumpelt stolperte Lars blindlings rückwärts, bis er mit dem Rücken gegen die Zugtüren stieß.


Sofort witterte der Schaffner seine Chance und griff an Lars vorbei zu den Türgriffen. Zischend schoben sich die Türen zur Seite, woraufhin Lars gerade noch das Geländer in der Mitte der Öffnung ergreifen konnte. Verzweifelt krallte er sich daran fest und widersetzte sich dem donnernden Fahrtwind, der sein Haar zerzauste und ihn nichts anderes als ein lautes Rauschen und Flattern hören ließ.


So hing er fast waagerecht neben dem Zug in der Luft, während sich der Schaffner an einem seitlichen Griff festhielt, um nicht ebenfalls aus dem Wagon zu fallen. Die Landschaft raste an ihnen vorbei, immer wieder machten sich Bäume nahe am Gleis mit einem vorbeirauschendem Geräusch bemerkbar, so dass Lars nur hoffen konnte, dass keiner den Schienen so nah war, dass er den Zug berührte.


Denn einen Aufprall mit solcher Geschwindigkeit würde er sicher nicht überleben.


Er hatte keine Ahnung, wie lange er schon so da hing, es kam ihm aber vor wie eine Ewigkeit. Auch seine Arme machten sich bereits schmerzhaft bemerkbar. Plötzlich konnte er durch seine zusammengekniffenen Augenlider einen Schatten im Zug wahrnehmen, der sich ihm anscheinend näherte, um ihn ganz aus dem Wagon zu stoßen.


Mit aller Kraft zog Lars sein eines Bein so weit nach vorne, dass er es auf die Treppe vom Wagon stellen konnte. Sofort verkantete sich der Fuß, da er wie Lars ganzer Körper nach hinten gedrückt wurde. Nach einigen Fehlversuchen gelang es ihm, auch das zweite Bein nach vorne zu schwingen.


Mit einer letzten verzweifelten Anstrengung zog er sich in den Wagon hinein und stolperte sofort am Schaffner vorbei von der Türöffnung weg. Letzterer drehte sich halb um und rannte mit weit aufgerissenem Mund und erhobener Faust auf Lars zu, der immer noch ein lautes Rauschen im Ohr hatte.


Er wich der Faust des Schaffners aus und versenkte die Eigene in dessen Gesicht. Der Schaffner taumelte zurück und prallte gegen das Geländer, an dem sich Lars zuvor festgeklammert hatte.


Der wiederum bemerkte die Pistole zu seinen Füßen, ergriff sie, riss sie hoch, ohne nachzudenken und drückte ab. Der Schuss hob sich kaum vom Rauschen des Windes und den vorbeidonnernden Bäumen ab. Der Schaffner riss die Arme hoch und die Augen sowie den Mund auf, erstarrte dann und rutschte langsam seitlich am Geländer vorbei, bis der Wind ihn ergriff und sein Körper innerhalb eines Sekundenbruchteils gegen die Wand geschleudert und dann mit dem Luftsog nach draußen gerissen wurde, wo er augenblicklich aus Lars Blickfeld verschwand.


Dieser starrte durch die Tür ins Freie, ohne wirklich etwas zu sehen. Langsam entglitt die Pistole seinem sich lockerndem Griff, fiel ungehört zu Boden und rutschte aus dem Zug. Vielleicht würde sie jemand eines Tages genau wie die Leiche finden, doch darüber machte sich Lars in dem Moment keine Sorgen.


Er wusste noch nicht einmal, was er fühlen sollte. Sollte er sich freuen, dass er überlebt hatte oder sollte er verzweifeln, da er gerade einen Menschen umgebracht hatte?


Nach einer langen Weile sackte er schließlich langsam auf die Knie und starrte gedankenverloren auf die vorbeiziehende Landschaft. Er fühlte sich entsetzlich. „Ich habe einen Menschen getötet. Ich habe einen Menschen getötet. Ich habe einen Menschen getötet!“, war das Einzige, was immer und immer wieder in seinem Kopf hämmerte.


Er fühlte, wie sich Wasser in seinen Augen sammelte und sich eine Träne daraus löste und langsam aber sicher seine Wange hinunterrann.


Plötzlich, ohne dass er ihr Kommen registriert hatte, war Alexandra da. Sie umarmte Lars und drückte ihn fest an sich. Er fühlte sich in ihren Armen vertraut und geborgen. Er war dankbar, dass sie da war, um ihn zu stützen. Mit einem Mal ließ er seinen Tränen freien Lauf.


Geschüttelt durch seine Schluchzer klammerte er sich an seine Schwester und weinte lange Zeit. Doch auch nachdem irgendwann die letzte Träne versiegt war, hielt er sich weiter an ihr fest. Sein Körper zitterte noch eine Weile lang, bis auch er zur Ruhe kam.


Schließlich hob Lars langsam den Kopf. Er fühlte sich wie neugeboren, obwohl er bestimmt schrecklich aussah, wie er dachte. Ein leichtes Lächeln legte sich auf sein Gesicht, als er Alexandra vor sich ansah.


„Danke.“, flüsterte er leise. Er war sich nicht sicher, ob sie es bei dem rauschendem Wind verstanden hatte, doch das spielte keine Rolle. Denn sie verstanden sich auch ohne Worte. Alexandra nickte nur ebenfalls und lächelte.


Lars räusperte sich, wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht und stand dann auf. Er half Alexandra hoch, zusammen begaben sie sich dann in das nächstgelegene Abteil, um den Geräuschpegel ein wenig zu senken. Lars Ohren summten immer noch ein wenig weiter, obwohl das Rauschen nur noch wesentlich leiser zu vernehmen war.


Doch mit der Ruhe kamen auch die Schmerzen wieder. Lars verzog das Gesicht und riss seine verletzte Hand wieder hoch, als er sich damit abstützte, um sich zu setzen. Langsam ließ er sich nieder, während er seine Hand begutachtete. Eine tiefe Schnittwunde zog sich einmal schräg über seine Handfläche.


Als Alexandra seinen Blick bemerkte, griff sie instinktiv neben sich. Doch mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass ihr Rucksack immer noch am anderen Ende des Zuges auf ihrem Platz lag.




So zogen sie also den mehr oder weniger verwüsteten Weg zurück, den sie gekommen waren.


Als sie bei Benjamin vorbeikamen, tippte der wie verrückt auf seiner Tastatur herum. Da er anscheinend eine Kreativphase hatte, wollten sie ihn nicht stören und schlichen sich unbemerkt an ihm vorbei. „Der hätte wahrscheinlich noch nicht mal gemerkt, wenn ein Elefant an ihm vorbeigetrampelt wäre!“, grinste Lars einen Wagon weiter, woraufhin er von Alexandra einen gutgemeinten leichten Klaps gegen die Schulter bekam.


An ihrem Ausgangspunkt angekommen stellte Alexandra erleichtert fest, dass ihr Rucksack noch dort war, wo sie ihn liegengelassen hatte, worüber Lars genervt die Augen verdrehte und meinte: „Wer soll denn hier bitte den Rucksack klauen? Wir sind doch die Einzigen, die so verrückt sind, mitten in die Höhle des Löwen zu fahren!“


Alexandra beließ es dabei und zog ein
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