Waldmär
Tim war nicht wieder gekommen.
Amandas Unruhe wuchs, während die anderen nur lachten und sich weiterhin wie alberne, pubertäre Teenager benahmen. Die meisten aus der Gruppe waren zwischen zehn und dreizehn Jahre alt und zum ersten Mal ohne das Beisein eines Erwachsenen unterwegs. Amanda würde im Winter volljährig werden, fühlte sich unter den kichernden Kids allerdings wie eine alte Greisin, die voller Lebensweis-heit steckte. Im Rahmen der Pfadfindertruppe Greensville hatte sie sich vor ein paar Wochen bereit erklärt die Kids auf eine Campingtour zu nehmen. Ursprünglich hatte Ben, der 23 war, ihr helfen sol-len, aber der Idiot hatte sich auf wundersame Weise mitten im August eine Grippe zugezogen.
Amanda verfluchte ihn in Gedanken und starrte in die züngelnden Flammen des Lagerfeuers. Die Hit-ze war inzwischen so groß, dass der Sitzkreis außerhalb einen nicht unbeachtlichen Radius erreicht hatte. Funken stoben wie kleine, brennende Insekten in den Nachthimmel auf, und es wurde kurz still, als es im Holz knackte. Es würde schwer werden das Feuer zu löschen. Zumindest würde es mehr als nur ein oder zwei Eimer Wasser benötigen, aber das war kein wirkliches Problem.
„Sollen wir mehr Äste drauflegen?“, fragte jemand, und Amanda schreckte aus ihren Gedanken. Es verstrichen ein paar Sekunden, bis sie begriff, dass die Frage ihr galt.
„Seid ihr verrückt?“, erwiderte sie dann rasch. „Ihr fackelt noch den ganzen Wald ab.“ Sie hob ihren Blick und sah nach rechts, nahm aber nur einen hellen, verschwommenen Fleck wahr, weil sich ihre Augen vorübergehend an das grelle Licht des Feuers gewöhnt hatten. Aus dem Fleck schälte sich eine Gestalt und streckte ihr eine Hand entgegen.
„Was ist mit dir?“, fragte Kathy und reichte ihr einen Becher Limonade.
„Nichts.“ Amanda blinzelte sie an, zwang sich zu einem Lächeln und fragte sich, ob ihre Sorge wirk-lich so deutlich vom Gesicht abzulesen war. Offensichtlich schon. Und sie war auch gewiss keine gute Lügnerin, denn Kathy verzog die Lippen zu einer Schnute und hob die Augenbrauen.
„Es ist wirklich nichts.“, versicherte Amanda und versuchte ihr Lächeln eine Spur echter wirken zu lassen.
Kathy setzte sich neben sie auf den Baumstamm, griff sich an die Waden und schlug nach einer Stechmücke oder anderem lästigen Getier.
Amanda kannte Kathy länger als alle anderen hier. Sie waren Nachbarn, auch wenn sich die Kommu-nikation zwischen ihnen bisher stets sehr in Grenzen gehalten hatte. Ihre Eltern verkehrten hin und wieder miteinander, aber für die Mädchen war der Altersunterschied zu groß. Beide hatten ihre eige-nen Freunde.
Es waren zehn Jungen und Mädchen, die heute hier waren, Amanda inklusive. Sie campten am Rande eines kleinen Stroms, der nicht sehr tief war, aber mit klarem, schnellem Wasser aus den höhe-ren Gebieten der Smoky Mountains im mittleren Osten der USA kam.
Es war falsch hier zu sein, dachte Amanda. Sie waren zu jung für den Trip. Nicht nur die Kids, son-dern auch sie selber. Der Gedanke kam und ging, während sie in die hellen, vom Feuer beschienen Gesichter blickte. Die nächste Ortschaft war nur 2 Meilen entfernt, und jeder trug für den Notfall ein Handy bei sich, aber das machte die Sache nicht wirklich besser. Amanda wollte heim. Sie schämte sich für den Gedanken und hätte es auch nie offen zugegeben, aber leugnen ließ es sich genauso we-nig.
„Tim fehlt.“, flüsterte Kathy plötzlich, und Amanda wollte zuerst den Kopf schütteln, aber das Mäd-chen hatte ja recht. Früher oder später würden es auch die anderen bemerken.
„Wie lange schon?“, fragte Kathy weiter und Amanda zuckte unschlüssig mit den Schultern. Ihr Blick wanderte auf das Ziffernblatt ihrer Armbanduhr, und ihre Sorge wuchs sprunghaft. Tim war seit einer dreiviertel Stunde fort. Er hatte nur eben mal im dichten Buschwerk verschwinden wollen, um seiner Blase Erleichterung zu schenken, aber das war nun wirklich schon fast eine Stunde her.
Sie schluckte, erinnerte sich an Kathy, und lächelte wieder unsicher.
„Er wird gleich wieder auftauchen.“, flüsterte sie, aber ihrer Stimme fehlte jede Überzeugungskraft.
Der Wind fuhr mit unsichtbaren Fingern über die Baumwipfel, blies Muster in die Kronen und ließ ein Geräusch wie das Flüstern tausender Stimmen erklingen. Das Feuer prasselte weiter vor sich hin, ver-schlang Holzscheit nach Holzscheit, und vermochte zumindest direkt im Umkreis die nähernde Dun-kelheit in Schacht zu halten, auch wenn sonst überall die Schwärze zum schneiden dick war. In der Ferne war der Fluss zu hören, der leise plätscherte.
Bald war es Mitternacht, und Amanda fällte abrupt einen Entschluss: Sie konnte nicht länger hier sit-zen bleiben und so tun, als wäre die Welt noch in Ordnung. Sie würde sich aus ihrem Zelt eine Ta-schenlampe holen und nach Tim suchen gehen. Wahrscheinlich steckte er irgendwo im Geäst, um sich mit Gebrüll und viel dummem Getue auf sie zu stürzen und ihr einen riesigen Schreck einzujagen, aber das erschien ihr noch weitaus besser, als jede Alternative. Entweder wollte er ihr nur einen Streich spielen, oder ihm war wirklich etwas zugestoßen. Er konnte wimmernd vor Schmerz und Sorge am Boden liegen, und es war ihre Aufgabe, für seine Sicherheit zu sorgen. Sie hatte nun einmal die Ver-antwortung für die Truppe übernommen.
Langsam stand sie auf, aber Kathy hielt sie zurück. Die Augen des jüngeren Mädchens wurden groß.
„Wo gehst du hin?“, wisperte sie.
„Ich komme gleich wieder.“ Abermals versuchte Amanda aufmunternd zu lächeln, aber der Versuch misslang kläglich. Ihre rastlosen Augen verrieten ihre Nervosität.
Kathy stand jetzt ebenfalls, wenn auch deutlich zögerlicher auf. „Du gehst in den Wald, nicht? Du willst Tim suchen.“
„Ja. Willst du mitkommen?“
Kathy überlegte lange, biss sich auf die Unterlippe, und Amanda lachte erstmals wirklich. Sie zwin-kerte Kathy zu und flüsterte ihr ins Ohr: „Du musst nicht mitkommen. Es ist alles in Ordnung. Bleib hier bei den anderen, okay? Wenn etwas passiert, ruf einfach ganz laut nach mir. Ich werde in der Nä-he bleiben.“
Kathy nickte, sank wieder auf ihren provisorischen Sitz zurück und beobachtete Amanda.
„Wollt ihr noch mehr Hotdogs?“, fragte diese die anderen und öffnete eine Kühlbox aus Styropor. Genau eine Packung war noch übrig, also konnte jeder noch eine Wurst im Feuer grillen. Dadurch würde die Rasselbande zumindest vorübergehend beschäftigt sein. „Michael ist für die Kühlbox zu-ständig.“, entschied sie, und überließ ihm den Behälter. „Stell sie nicht zu dicht ans Feuer, sonst schmilzt das Plastik.“
Er nickte.
„Ich bin kurz weg. Macht keinen Scheiß, ja?“
Diesmal nickten auch die anderen, aber ein gurgelndes Gekicher aus der hinteren Reihe verriet, wie ernst sie Amanda als Autorität nahmen.
„Hey. Hör auf zu zwicken.“, rief jemand, und Amanda verdrehte die Augen.
„Das war ernst gemeint.“, sagte sie noch einmal, dann seufzte sie und kroch in ihr Zelt. Unter ihrem Schlafsack lag ihre Taschenlampe, und der Schein flammte wie ein Signalfeuer auf. Der Lichtkegel huschte draußen über die Rücken der Kinder, tanzte über die Silhouetten der Bäume und Sträucher, und traf anschließend auf ein Loch aus Dunkelheit. Dort war der Weg, über den sie ins Gebirge ge-kommen waren; ein Trampelpfad, der sich in halsbrecherischen Serpentinen den Hang hinauf wand. Blicke folgten ihr, als sie sich auf den Weg machte, aber sie ignorierte sie.
Zur Sorge gesellte sich jetzt Ärger. Es war kalt und erster Tau lag am Boden. Ihre festen Wanderschu-he lagen im trockenen Zelt, so dass sie jetzt nur mit Flip-Flops unterwegs war und die Feuchtigkeit des Grases spürte. Wenn Tim wirklich nur auf einen Scherz aus war, würde er gleich Mordgezeter erleben. Sie würde ihn an den Ohren bis nach Greensville zurückschleifen und ihm eine Tracht Prügel, an die er sich bis ans Ende seiner Tage erinnern würde, verpassen.
„Tim?“, zum ersten Mal rief sie nach dem Rotzbengel, erhielt aber keine Antwort. Ihre Schritte wur-den schneller, und sie versuchte sich in der Dunkelheit zurecht zu finden. Vor ihr war jetzt der Fluss. Dort würde Tim gewiss nicht sein. Das Wasser war nur knöcheltief, dafür aber so breit wie eine zwei-spurige Straße. Links führte der Weg am Flusslauf entlang, fiel in einiger Entfernung zur Seite ab und verlor sich in den bereits erwähnten Windungen.
Sie blieb stehen, entschloss sich dem Weg zu folgen und schaltete gedankenschnell ihre Taschenlampe aus. Über dem Weg war eine Lücke im Blätterdach des Waldes, und Mondschein erhellte den Pfad mit silbernen Strahlen, die sich auf den vielen feuchten Sträuchern und Büschen widerspiegelten. Wenn Tim ihr auflauern wollte, sollte er es doch versuchen. – Sie würde den Spieß umdrehen, und aus der Gejagten eine Jägerin machen. Sie grinste bei dem Gedanken.
Der weiche Waldboden und das Plätschern des Flusses verschluckten die Geräusche ihrer Schritte, und sie verfiel in einen leichten Trab. Wie ein Tier tauchte sie in den Wald ein und lief hinter der Mauer aus Bäumen weiter, behielt den Weg allerdings weiterhin im Auge. Tim würde dort sicher irgendwo sein. Je mehr sie darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher erschien es ihr, dass ihm etwas zuge-stoßen war. Der Wald war groß und leer. Sehr leer. Nicht einmal wilde Tiere gab es hier, abgesehen vielleicht von Waschbären und Eichhörnchen. Bären oder Wölfe waren seit Jahren nicht mehr in der Nähe gesichtet worden, andernfalls hätte man ihr und den Kids den Ausflug gewiss nicht gestattet.
Einige Minuten lang lief sie in der Dunkelheit schnell dahin, bis sie nicht weiter konnte. Sie hatte eine wirklich miese Kondition. Außer Atem stützte sie sich auf ihren Oberschenkeln auf und ließ ihren Blick über die Landschaft schweifen. So weit weg konnte Tim doch nicht sein.
Sie rief sich sein Gesicht ins Gedächtnis; ein