Waldmär

elfjähriger Blondschopf mit rotem Wagen und hellen Augen. Er war ihr eigentlich nie negativ aufgefallen.
Während sie sich eine Pause gönnte, dachte sie über ihr weiteres Vorgehen nach. Das klügste würde es sein, jetzt doch direkt dem Weg zu folgen. Wenn sie Tim schon nicht finden konnte, vermochte er vielleicht wenigstens sie zu finden, wenn sie immer im Mondlicht blieb. Zum Teufel mit dem Streich.
„Tim?“, hallte ihre Stimme durchs Geäst. Die Nervosität kehrte wieder zurück, wie eine Schlange im hohen Gras.
„Tim! Das ist kein Spaß mehr! Komm raus, wo immer du bist!“
Irgendwo war ein rasches Geräusch, und sie blieb wie versteinert stehen. War es der Junge? Sie konnte es sich auch nur eingebildet haben. Inzwischen waren ihre Sinne mehr als nur gereizt.
Ein plötzlicher, sehr beunruhigender Gedanke kam ihr: Was, wenn ihnen jemand aus der Ortschaft gefolgt war. Es gab hier kein wildes Getier, aber Menschen konnten oftmals viel schlimmer sein. Im Fernsehen sah und hörte man so oft von schrecklichen Gräueltaten. Die Welt war voll mit perversen Typen.
„Tim?“, rief sie noch einmal, diesmal in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Ihre Stimme wirkte leiser, als beabsichtigt.
„Tim, du machst mir Angst. Hör auf damit! Sofort!“
Der Wald blieb stumm. Wenn die Bäume nur hätten sprechen können… Amanda zog nun doch wieder ihre Taschenlampe heraus und betätigte den Schalter. Das Licht glitt vor ihr über den Pfad, und ihr Blick haftete sich daran, wie ein Ertrinkender an einen Rettungsreifen. Der Weg kam ihr jetzt enger und steiler vor, als noch beim ersten Aufstieg. Hätte sie nicht genau gewusst, dass es unmöglich war, hätte sie behauptet, die Bäume wären näher gerückt. Wurde sie nun schon paranoid? Vielleicht setzten ihr Finsternis und Einsamkeit doch mehr zu, als sie sich eingestehen wollte.
Langsamer gehend richtete sie den Strahl ihrer Lampe horizontal auf die Dunkelheit. Etwas fehlte. Etwas war hier nicht normal, und es hatte nichts mit Tims Verschwinden zu tun. Es war nichts worauf sie mit dem Finger hätte zeigen können, aber es jagte ihr eine ungeheure Furcht ein, die nicht mir rati-onalen Mitteln erklärt werden konnte. Jedes Härchen auf ihrem Körper stellte sich auf.
Was war da? Für ein paar Sekunden vergaß sie sogar zu atmen, und auf einmal erkannte sie, was ihr eben noch entgangen war:
Das Feuer war weg.
Die großen Flammen mussten selbst durch den Wald noch als Glimmen in der Ferne zu sehen sein, aber die Dunkelheit war vollkommen. Außer von ihrer Taschenlampe und dem Mond war kein Licht auszumachen.
Denk nach!, befahl sie sich in Gedanken. Du weißt, dass das nicht möglich ist, Amanda! Benutze dei-nen Verstand. Um das Feuer zu löschen hätten die Kids Wasser vom Fluss holen müssen. Viel Wasser. Das haben sie gewiss nicht getan.
Sie kam sich plötzlich vor, wie die Hauptfigur in irgendeinem billigen Horrorfilm, nur dass an ihrer Furcht absolut nichts billig war. Die Angst breitete sich in ihr aus und sie rannte weiter. Ohne auf ihre Umgebung zu achten hetzte sie über den Pfad. Es war ihr egal, was mit Tim geschehen war. Schuldge-fühle und Sorgen würden später wieder zurückkehren. Im Moment verspürte sie nur noch das Verlan-gen wieder unter den anderen zu sein. In der Gruppe konnte sie stark sein. Es waren zwar nur Kinder, aber sie waren zu neunt, selbst wenn man Tim nicht mehr mitrechnete, und das vermittelte ihr ein Ge-fühl der Sicherheit.
Ihr Puls schlug schneller.
Das vermaledeite Feuer! Der Schein musste doch… - Ha! Ihr fiel eine andere Möglichkeit der Orien-tierung ein. Sie blieb stehen und richtete ihren Blick nach oben. Wenn sie die Flammen schon nicht sehen konnte, dann wenigstens die dicken Rauchschwaden über den Wipfeln der Bäume. Selbst ein sehr großes Feuer konnte relativ schnell gelöscht werden, wenn man die richtige Ausrüstung dazu hatte, aber der Rauch hielt sich meistens noch viel länger über den verkohlten Resten. Und tatsächlich, diesmal konnte sie aufatmen.
Hatte sich die ganze Bande gegen sie verschworen? Das Misstrauen von zuvor keimte wieder auf. Vielleicht war Tim nur der Lockvogel gewesen. Kaum war sie von dannen gezogen, hatten die ande-ren mit vereinten Kräften die Flammen gelöscht und…
So ein Blödsinn. Das ergibt nicht den geringsten Sinn.
Sie seufzte erneut, machte sich aber dennoch zum alten Platz auf.
„Amanda!“
Sie zuckte wie unter einem Hieb zusammen. Jemand rief sie beim Namen, und es kam nicht vom La-gerplatz. Sofort war ihr Puls wieder auf Hochtouren. Wer war da?
„Tim?“, schrie sie zurück und begann zu rennen. Die Stimme war vom Flusslauf aus an ihr Ohr ge-weht.
„Amanda!“, rief die Person abermals, und diesmal wusste sie genau, dass es Tim war. Er klang erregt. Nahezu panisch. „Amanda! Hilf mir!“
„Wo bist du?“
„Am… am Wasser!“
„Bleib dort! Ich komme!“
Ihre Taschenlampe schnitt eine Schneise in die Finsternis, und sie streifte dorniges Gebüsch und Tan-nennadeln, die wie dünne Finger nach ihrem Nacken griffen.
„Die Bäume!“, schrie Tim. Schritte ertönten irgendwo vor ihr und Amanda fluchte gedanklich. Sie hatte ihm doch eben erst befohlen auf sie zu warten.
„Bleib stehen!“, rief sie, diesmal mit mehr Nachdruck, aber Tim lief dennoch weiter. Ein huschender Schatten markierte seine Gestalt im Dickicht. Fahrige, schnelle Bewegungen und ein bleiches Kna-bengesicht waren flüchtig im Schein zu erkennen, dann verlor sie ihn.
„Tim, verdammt!“
Die Schritte verstummten zwei Sekunden lang, dann platschte kurz Wasser, und anschließend wurde es endgültig still.
Zu still.
Die Grillen zirpten zu dieser Jahreszeit normalerweise die ganze Nacht lang, aber ihr Konzert war verstummt. Selbst der Wind hatte sich jetzt vollkommen verabschiedet.
„Tim?“, diesmal flüsterte sie seinen Namen nur.
Im Gras, halb versteckt unter dichten Halmen lag ein Schuh; ein kleiner Schuh, wie von einem zehn-jährigen Jungen. Amanda hob ihn auf und drehte ihn in ihren Händen, wie ein Indiz in einem Mord-fall.
Schlimmste Vorahnungen begleiteten den Fund. Wo war der Junge, dessen Fuß in dem Schuh stecken sollte? Ein Geräusch ließ sie erneut zusammenzucken, aber da war nichts außer tiefer Dunkelheit.
„Amanda…“ Eine Böe wehte das Geräusch heran. Niemand hatte gesprochen, aber es klang wirklich, als hätte jemand ihren Namen gerufen. Das war nun mehr als nur verrückt.
Sie schluckte. Was hatte Tim ihr zuletzt noch sagen wollen? Die Bäume? Was war mit ihnen?
Alles schien normal. Vorsichtig ging sie weiter, bis sie die Uferböschung am Flusslauf erreichte. Dort war der zweite Schuh, am Stamm eines kleinen Baums. Es sah aus, als hätte sich eine schlanke Wurzel spiralenförmig um den Schuh gewickelt, aber wahrscheinlicher erschien ihr, dass Tim dort hängen geblieben und ins Wasser gestürzt war. Aber der Fluss war wirklich nicht tief… Er konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Und wieso hing sein T-Shirt ebenfalls an dem Bäumchen? Der Stoff des Kleidungsstücks war an ein paar Stellen gerissen und schmutzig.
„Tim?“, wisperte sie zum scheinbar hundertsten Mal diesen Abend, und wie als Antwort fuhr der Wind wieder durch die Baumwipfel.
Sie hatte sich noch nicht nach dem zweiten Schuh gebückt und würde es auch nicht mehr, denn plötz-lich wand sich die Wurzel enger drum herum. Triebe schnellten mit einer, für biologische Verhältnisse nahezu wahnwitzigen Geschwindigkeit aus dem Boden, griffen nach dem Schuh und zogen ihn tiefer unter das Wurzelwerk.
Und Amanda rannte davon. Sie wollte keine Sekunde länger mehr hier bleiben. Dieser Wald war verrückt! Was hier geschah, ging nicht mit rechten Dingen zu. Ihr Herz raste und Adrenalin floss mit der Angst durch ihren Körper.
„Amanda? Hilfe!“ Weitere Stimmen hallten durch den Wald. Auch den anderen Kids erging es schlecht. Schemenhafte Figuren schrieen, rannten und zappelten im Halbdunkel des Waldes, vermoch-ten aber doch nichts gegen ihren unheimlichen Feind auszurichten.
Kathy tauchte wie ein Geist vor Amanda auf, stieß fast mit ihr zusammen, und fiel auf ihren Hosenbo-den.
„Amanda!“, kreischte sie und schlug wie eine Furie auf ihr eigenes Bein ein. Amanda wollte ihr sofort wieder aufhelfen, vermochte sich aber kaum zu bewegen, als sie bemerkte, was mit dem Mädchen geschah. Kathys Hosenbein platzte an der Naht auf und der Riss setzte sich nach oben hin fort. Darun-ter war keine Haut, sondern graue, zerfurchte Rinde. Auch ihr Gesicht verfärbte sich. Die hellen Au-gen wurden trüb, schienen wie unter großer Hitze anzuschwellen und sich in eine härtere, holzartige Substanz zu verwandeln. Aus den Haaren wurden Äste und Ranken mit dünnen, krausen Blättern, und aus den Füßen lange Wurzeln, die sich wie Krallen ins Erdreich schlugen. „Was passiert mit mir?“, keuchte Kathy mit ihrem letzten Atemzug, dann stand nur noch ein Baum dort.
Und Amanda drehte jetzt wirklich durch. Ihr Blickfeld verlor sich hinter einem Schleier greller Blitze und schwarzer Flecken, und Galle kroch ihre Kehle hinauf. Einige der anderen Kinder schrieen noch, aber auch deren Schicksal war gewiss. Sie hatten keine Chance.
Was hatten sie dem Wald getan? Wieso geschah dies ausgerechnet ihnen? Die Übelkeit begann sie zu überwältigen und es gesellte sich jetzt auch ein starkes Schwindelgefühl dazu. Ihre Beine schienen kaum noch genug Kraft zu haben, um ihren Leib zu stützen. Der Wald hatte auch sie erreicht.
„Nein…“, wisperte sie, während ihre Haut spröde wurde. „Nein!“
Ihre Taschenlampe polterte zu Boden, traf auf ein Moospolster und blieb liegen. Im Licht kamen nun die anderen Bäume näher. Wurzeln bewegten sich wie kleine Füße, und Äste griffen wie lange, spitze Finger nach ihr.
„Was hab ich euch getan?“, flüsterte sie, und der Wind gab ihr die Antwort:
„Du hast ein Feuer entfacht!“, wehte es durch die Blätter. „Und es den Kindern
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