Cold Night

Der kalte Wind fuhr ihr durch das Haar. Einfach weiter laufen, einfach nur weiter laufen, dann würde alles gut gehen, dann würde sich irgendeine Lösung für diese aussichtslose Situation finden. In ihren Augen brannten Tränen, die nicht vergossen werden durften. Niemals würde sie deswegen weinen, niemals, sie durfte es einfach nicht, es wäre nicht fair gewesen.

Wie in Trance setzte sie immer einen Fuß vor den anderen. Seit Stunden war sie jetzt schon so unterwegs. Die Musik aus ihrem Mp3-Player übertönte alle anderen Geräusche der Nacht. Sie hörte das Rauschen des Windes nicht, hörte nicht die vereinzelten Menschen auf der Straße, die gemeinschaftlich lachend den Weg nachhause anstrebten. Nur hin und wieder, wenn ein Auto an ihr vorbeifuhr, oder eine Sirene irgendwo in der Dunkelheit ertönte, schreckte sie kurz auf und der Rhythmus ihrer Schritte wurde kurz unterbrochen um danach automatisch zu dem Takt, den sie unbewusst vorgab, zurückzufinden.

Was hatte sie getan? Das Ausmaß ihres Verrats war ihr so nach und nach immer klarer geworden. Sie konnte an nichts anderes denken, zwang sich aber jedesmal ihre Gedanken davon abzuwenden. Sie musste einfach nur weiterlaufen, dann würde sie schon irgendwann einen Traumzustand erreichen, in dem sie ihr restliches Leben verbringen würde.
Die einzige Lösung war, ihre Gefühle auszusperren, alle Arten von Gefühlen nie wieder zuzulassen und sich vor der gesamten Welt zu verstecken. Das wahre Ich verbergen, sodass es nie wieder jemand finden kann. Nicht einmal sie selbst.

Beißend kalt war der Wind. Sie hatte sich doch extra so warm eingepackt. Trivialitäten, die jetzt nichts mehr ausmachten. Es schien auf einmal unglaublich wichtig an diesem Gedanken festzuhalten. Triviale Dinge wie die Kälte konnte sie mit ihrer Vernunft begreifen. Das was sie getan hatte nicht. Die logische Schlussfolgerung war: Sie musste sich an die banalen Dinge des Lebens klammern, um nicht verloren zu gehen, im Sog ihrer Gefühle.

Sie setzte einen Schritt vor den anderen, ein schneller, harter, unnachgiebiger Rhythmus. Er erweckte den Eindruck eines starken Selbstbewusstseins. Sie war selbstbewusst. Sehr sogar. Sie fühlte sich an niemanden gebunden und war sich ihrer selbst sehr sicher, normalerweise. Heute jedoch zeugte ihr fester Schritt nur von der Wut und der Verzweiflung, die in ihr kochte. Wenn man nicht weiß wohin man sich wenden soll, wohin man gehen soll, dann geht man einfach immer weiter. Die Hoffnung ist immer da. Selbst wenn eigentlich keine Hoffnung mehr möglich ist, gibt es immer noch Hoffnung. Man geht einfach weiter. Sie ging einfach weiter. Sie nährte leise die Hoffnung in ihrer Brust , dass da irgendwo irgendjemand sein könnte, der ihr Leid versteht, der sie nicht verurteilt, der sie einfach in den Arm nimmt und ihr sagt, was sie tun soll. Sie wusste, dass da niemand sein konnte, dass nicht einmal ER sie so begreifen konnte, wie sie war, obwohl ER eigentlich dasselbe verspüren müsste.

Das machte die ganze Situation nur noch schlimmer. ER war das Zentrum ihrer Gedanken, das sie so vehement versuchte auszuschließen. Sie hatten beide den selben Fehler begangen und ihn noch nicht einmal aufrichtig bereut. Natürlich hatten sie ein schlechtes Gewissen, natürlich machten sich beide extreme Vorwürfe, aber das Wissen, das beide von einer süßen, verbotenen Frucht gekostet hatten, die sich dann auch noch als das einzig sinnvolle Lebensziel herausstellte, war unerträglich. Wie hatte es nur soweit kommen können?

Die Falte zwischen ihren Augen vertiefte sich, sie streckte die Hände noch tiefer in die Taschen und beschleunigte ihren Schritt. Sie wollte nicht daran denken, sie wollte einfach ihren Kopf freibekommen und einfach an nichts denken müssen, aber die Gedanken kamen immer wieder hoch. Und SEIN Bild ging ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf.

Wie konnte sie weiterleben, wenn sie wusste, was ihr Lebensziel war und gleichzeitig wusste, dass sie es nie erreichen konnte. Dass sie nie mit IHM glücklich sein würde. Es war ein bittersüßer Schmerz. Wenn man hinter den Nebel gesehen und die Wahrheit erkannt hat, ist es immer ein bittersüßer Schmerz. Man hat die Perfektion erkannt und seine eigenen Nichtigkeit erfahren.

Die süße Erinnerung an diese eine Nacht und zugleich der Schmerz über das Wissen der Unmöglichkeit. Beste Freunde nehmen sich nicht die Freundinnen weg. Und doch hat ER ihren Freund um die Freundschaft betrogen.

Langsam tränkte sich ihr Schal mit Tränen und der Wind trug ihre leisen Klagelaute davon.
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