Das Erbe der Berge
Prolog
„Gute Nacht, mein Sohn... mögen deine Zeiten lang und unbeschwerlich sein. Ein Wesen wie mich vermag nicht zu existieren, wenn jemand anderes es fortruft... Zeiten ändern sich nun einmal und auch du hast dich verändert. Vergesse nur nie, dass dort deine Heimat liegt!“
Der alte Mann wies mit der ausgestreckten Hand zu den Bergen. Majestätisch erhoben sie sich aus dem Tannenwald, reckten sich bis hoch in die Wolken, unendlich und Schneebedeckt standen sie fest und unbeweglich. Der Wind schien Stimmen in die Kuppen zu werfen, die hallten und weit über das Land hallten, durch die schroffen Felsnasen hindurch...
Der Mann war traurig, seine Züge ausgemergelt und verwittert, Falten zogen tiefe Risse durch sein fast totenbleiches Fleisch. Die Augen waren glasig und liebevoll. Noch einmal streichelte er die Wange des Kindes, dann sanken die Lider herunter, blieben zu und die Hand sank schlaff herunter.
Sean legte sie zurück neben den toten Körper des Mannes. Seine Augen hatten sich mit Tränen gefüllt gehabt, die nun an seinen Wangen herunterliefen, doch kein Zucken erfüllte seine Brust, sondern er blieb still, verharrte andächtig.
Das floßähnliche Bot war flach, bestand aus mehreren grob zusammengezimmerten Brettern, kleineren Stämmen von rauen Fichten, zusammengebunden mit festen Stricken, dichte Bündel von Reisig an den Rändern, in der Mitte eine Decke aus Tierfell, auf welcher der Tote lag, umhüllt von einem weiteren, wärmender Fell. Klapprig und leicht, fast schwerelos hatte Sean ihn und das Floß herschaffen können, auf einem Wagen durch den Schnee geschoben. Der Himmel war klar und nun holte der Junge zwei Feuersteine unter seinem Gewandt hervor, entzündete das Gestrüpp und schob das Schiffchen durch den knirschenden Kies des Ufers in den klaren, eiskalten Fluss hinein, während die Flammen immer höher lodernden, sich langsam über das Bot fraßen, ohne es zu zerstören, bis sie schließlich Sean’ s Ziehvater erreichten und sich nasse Brandblasen auf dessen Haut bildeten. Das kleine Schiff hatte abgelegt ab, trug den Alten woanders hin, dorthin, wo man nichts spürte. Sean sah ihm nach, betrachtete die Figur, die unbeweglich den Fluss in dem kleinen Kahn fortsetzte, von der Strömung erfasst wurde und sich dann in der Ferne verlor.
Er blieb stehen, versuchte nicht mit den Augen die fernen Nebel, in die das Bot trieb, zu durchdringen, sondern war in Gedanken versunken, Gedanken, die sich um den toten, alten Man drehten, der nun diese Ebene des Seins verlassen hatte, eingetaucht war in eine Andere.
Die Steine am Ufer des Flusses waren weiß, so blütenweiß, wie die Kleider Sean’ s, hell, vermischt mit grauen Flecken. Sean’ s Kapuzenmantel war grau, hatte vorne zwei Schnüre zum zusammen binden, sein Wollhemd was er darunter Trug weiß, ein schwarzer, lederner Gürtel in welchem ein langer, schimmernder Dolch steckte, hohe, graue Lederstiefel und Handschuhe aus dem gleichen Material. Seine Haare waren tiefschwarz und hingen ihm in einzelnen Strähnen glatt und unregelmäßig vom Kopf. Er hatte dunkelbraune, große Augen, die ewig traurig zu sein schienen.
Noch lange stand er da, stillschweigend zu Boden sehend. Schließlich drehte er sich ohne ein weiteres Wort um und verlies diesen Ort der Vergangenheit, den Ort des Todes, stieg den uneben Pfad zu ihrer Hütte hinauf, stapfte durch den dicken, eisigen Schnee, sodass Eiskristalle dabei zerstoben und in alle Richtungen der bekannten Welt verflogen...
Kapitel 1: Die kalte Nacht
„Augen sind gut,“, sagte die alte Wurzelhexe und kratzte mit dem langen Fingernagel ihrer Klaue einen großen Holzspan aus dem Balken, „aber nur, wenn man weiß, wie man sie gebraucht!“
Sie selbst war blind, hatte glasige Augen, den Tot sah man ihr zwar an, doch durch Bewegungen oder Gedanken hatte er sich bei ihr noch nicht bemerkbar gemacht. Die krumme Nase reichte ihr fast bis zum Kinn und als sie grinste, sah man ihre scharfen, ungepflegten Zähne hervortreten. Das teuflische Weib hatte lange, zerzauste Haare in denen sich allerlei Insekten verkrochen hatten. An ihrem faltigen, totenbleichen Kinn krabbelte eine Küchenschabe herum, die soeben aus ihrem verfaulten Maul geklettert war, sich hier drehte und wendete und schließlich in ihrem Nasenloch verschwand. Sie selbst war aber von kleiner Gestalt und trug ein ledernes, zerschlissenes Kleid, was nur so vor Dreck strotzte. Das seltsamste aber war, dass sie barfuss über die hölzernen Dielen des Wirtshauses marschierte. Auf ihren kleinen, krallenbewehrten Füßen wuchs ein wirrer Flaum von schneeweißen Haaren, was aber nicht sonderlich war, da sie so oder so eine sehr haarige Gestalt war.
Sie ballte die kleine Faust vor dem Wirt.
„Nun gebt mir endlich einen Krug Bier, oder ich muss mir sie nehmen! Habe lange nur schlechte davon mit mir herumgetragen!“
Der gutbeleibte Wirt beugte sich weit über die Theke vor zu ihr und versuchte mit energischer Stimme der Alten etwas klar zu machen, die Hände in die Hüften gelegt:
„Is nicht, Alte, is nicht, Wurzelhexe! Du bekommst hier keinen Alkohol mehr !“
„Warum nicht!“, fauchte die kleine Gestalt und schabte mit ihren spitzen, dreckversehenen Nägeln an der Theke.
„Weil du uns dann immer die ganze Einrichtung zerstörst, wenn du besoffen bist!“
Der Wirt versuchte es ihr mit wilden Handbewegungen klar zu machen, was er meinte, doch sie schüttelte nur den Kopf.
„Das war als ich noch jung war! Jetzt bin ich eine Erwachsene und darf mir das Gesöff der harten Leute einflößen!“
Amüsiert hob der dicke Mundschenk die Brauen. Die anderen Leute der Stadt, die zu dieser Tageszeit noch auf den Beinen waren, tratschten angeregt miteinander, doch keiner schien wirklich glücklich zu sein, alle hoben die Krüge prosteten sich zu und taten dann einen großen Schluck. Ungewaschene Gesichter, harte Männer waren zu sehen, groß, dick und muskulös, doch behäbig und alle trugen sie speckige Hemden, oder steckten noch in ihren ledernen Rüstungen. Es war nicht lange her, dass die feindlichen Truppen angegriffen hatten, aus dem Wald rings um die Feste waren sie zu Hunderten erschienen, hatten versucht die Mauern einzureißen und sich zutritt nach drinnen zu verschaffen. Nur unter hohen Verlusten war es den Bewohnern der Stadt gelungen ihre Heimat zu verteidigen und das reichte dann auch schließlich, um den Gegner erst einmal zurückzutreiben. Es waren die Tjaarks gewesen, Ritter aus dem Osten, wie man sie nannte. Vermutlich hatten sie sich um die Felshänge geschlichen, die rings um die Stadt lagen und waren dann durch den Pass vom Westen her gekommen. Wahrscheinlich hielten sie sich immer noch hier in der Gegend auf und so lange keine Verstärkung auftauchte, konnten die Bewohner von Heliorosien nichts anderes tun, als sich zu verteidigen.
Draußen auf den nur spärlich beleuchteten Straßen taumelte ab und zu ein hustender Kranker, dem der Schwips vom Brandwein im Nacken saß, herum, der jedes Mal kehlige Geräusche von sich gab.
„Wie magst du wohl dann ausschauen, wenn du endlich ganz tot bist?“
Alle in der Gaststube lachten laut, doch die Wurzelhexe tat etwas unerwartetes. Sie streckte die Flache Hand aus, berührte den dicken Wanst des Gastgebers, glitt höher, wo sich seine Brust befand und tauchte wie durch Nebel in ihn ein. Der Wirt konnte sich nicht rühren, versuchte es, scheiterte jedoch kläglich und musste verkrampft zusehen, wie sie sich innerlich durch sein fettes Fleisch grub, nach seinem Herz grub, versuchte es zu ergreifen. Zuerst tat es ihm nicht sehr weh, doch dann, als sie sein herz erfasste, es fest zusammendrückte, als wolle sie etwas aus ihm herausquetschen, schien der Neble seiner Gestalt wieder fest und real, blut rann in Strömen aus dem Loch in seinem Wanst, in welchem die Hexe immer noch ihre Finger vergruben hatte und ihm etwas zu nehmen schien, wenn nicht sogar seine Lebenskraft.
Während sie drückte und mit ihren Krallen in seinem fleisch bohrte, fühlte sie, wie sich die Anzahl seiner Herzschläge immer weiter steigerte und schließlich verstummte. Der plötzlich nicht mehr so schwere, breite Körper des Wirts kippte mit einem lauten Krachen auf den Boden, während seine Wunde blut lehr war und seine Haut die Farbe des Todes angenommen hatte, nur vertrocknetes Blut an den Nägeln der Alten blieben.
Die Leute, die bis jetzt nur zugesehen hatte, waren mit einem Mal alle auf den Beinen, starrten geräuschlos und angsterfüllt auf den Toten und auf die blinde Wurzelhexe, die plötzlich nicht mehr blind war, sondern schwarzes Dämonenlicht aus ihren Augenhöhlen sandte.
„Nach jedem Tot kehr alte Kraft in mich zurück!“, fauchte sie, erhob die Arme und sah zur Decke.
„Komm her, du...!“, rief einer der Männer mit zerwühlten Haaren und erhob kampflustig sein Schwert, doch die Wurzelhexe hatte sich schon mit einer magischen Geste verwandelt, die erhoben Arme waren zu Schwingen geworden und glichen Schatten in der Dunkelheit, düster und schwarz. Ein Rabe mit blutunterlaufenen, höllischen Augen saß auf dem Kopf des Toten, krallte seine Klauen in dessen Kopfhaut und krächtste, dann flog er mit einer schnellen, flatterhaften Bewegung davon, erhob sich in die stickige Luft, zog die Klauen an und steuerte mit weit ausgebreiteten Schwingen auf das Fenster zu, lies die Scheiben mit einem klirrenden Geräusch zerspringen und die Scherben splitternd zu boden rieseln, dann war er in der Dunkelheit der Nacht verschwunden, eingetaucht in die Finsternis der Zeit.
„Solln wir etwa jagt auf dieses blutrünstige Federvieh machen?“, erhob der mit dem Schwert seine Stimme, diesmal zu allen Gewand, „Ich schlage einen Suchtrupp vor, der...“